28.12.2023 von Jens Wieseke - Die Partei sei zu sehr aufs Fahrrad fixiert, Bahn und Bus geraten ins Hintertreffen, meint Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband. Ein Gastbeitrag.
Er ist das Gesicht der Berliner Fahrgastlobby. Seit 30 Jahren gehört Jens Wieseke dem Fahrgastverband IGEB an. Mit pointierten Einschätzungen vertritt der Ost-Berliner die Interessen der Nahverkehrsnutzer, die von Politikern und Planern oft übersehen werden.
Doch eine solche Generalabrechnung wie diese gab es bislang von ihm nicht. In seinem Meinungsbeitrag über vertane Chancen bei der Berliner Verkehrswende rechnet Wieseke mit den Grünen ab, die von 2016 an fast sieben Jahre lang die Verkehrssenatorinnen stellten. Er kritisiert aber auch die CDU, die das Ressort danach übernahm, und die SPD.
–—
Die bisherigen Erfolge in der Berliner Verkehrspolitik seien „dürftig“, so der langjährige Sprecher des Fahrgastverbands. Die Grünen seien zu sehr aufs Fahrrad fixiert, die CDU verliere sich in Technikspielereien. In seinem Beitrag lässt er das verantwortliche Politikpersonal und dessen Umfeld Revue passieren. Von 2016 bis 2021 war Regine Günther als Senatorin für Berlins Verkehr zuständig, gefolgt von Bettina Jarasch, die ebenfalls den Grünen angehört. Die Wiederholungswahl im Februar 2023 brachte auch in dieser Verwaltung den Wechsel. Manja Schreiner ist seit Ende April Verkehrssenatorin.
Vor der Wahl von 2016 erschien ein neuer Player auf dem Berliner Areal der Verkehrspolitik. Mit dem Volksentscheid Fahrrad verschaffte sich eine bisher stiefmütterlich behandelte Gruppe der Verkehrsteilnehmer Gehör. Deren Anliegen waren und sind berechtigt.
Zum einen ist für viele Menschen in dieser Stadt das Fahrrad mehr als ein Teil aktiver Freizeit, sondern Teil der Alltagsmobilität. Zu Recht wird dargestellt, dass ein Fahrrad wesentlich weniger Platz benötigt und vor allem wesentlich umweltfreundlicher als private Automobilnutzung ist.
„Mit ehrabschneidenden Beleidigungen überhäuft“
Zum anderen führt aktive Nutzung des Fahrrads nicht nur zu weniger Kraftfahrzeugverkehr mit all seinen Folgen. Auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) kann spürbar entlastet werden. Die wachsende Gruppe der Radfahrer fordert ebenfalls zu Recht einen stärkeren Ausbau der Infrastruktur für das Fahrrad. Aber auch das Fahrrad ist ein Individualverkehrsmittel im Gegensatz zum ÖPNV.
Allerdings trat ein Teil der Fahrradaktivisten mit geradezu populistischen Meinungsäußerungen an die Öffentlichkeit. Als der Berliner Fahrgastverband IGEB mit einer Presseerklärung an deren Entwurf eines Radgesetzes Kritik übte, wurde diese sachliche und inhaltliche Kritik mir gegenüber als „Blutgrätsche“ bezeichnet.
Dazu muss ich erläutern, dass ich aus dem Bereich der Anhänger der Förderung des ÖPNV aufgefordert worden war, mich klar und deutlich dann zu äußern, wenn fehlerhafter Ausbau der Fahrradinfrastruktur die Straßenbahn und vor allem den Bus noch mehr verlangsamen würde. Beispiele gibt es inzwischen zur Genüge, exemplarisch steht dafür die Kantstraße. Der Entwurf des Radgesetzes sah eine eindeutige Bevorzugung des Fahrrades nicht nur gegenüber dem Auto, sondern auch gegenüber dem ÖPNV vor.
Im Juni 2016 ergab sich dann die Gelegenheit, dass der Chef des Volksentscheids Fahrrad und ich uns das erste Mal trafen. Das Treffen verlief so, dass er mich mit ehrabschneidenden Beleidigungen überhäufte. Betont sei, dass wir uns vorher noch nie gesprochen hatten. Im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass der Fahrgastverband und ich eingeschüchtert werden sollten. Damit war aber die Basis für eine Zusammenarbeit zwischen dem Volksentscheid Fahrrad und dem Berliner Fahrgastverband IGEB vergiftet. Dass besagter Chef diese Beleidigungen in Gegenwart eines Journalisten äußerte, zeigte nur, wie wenig die Belange anderer Verkehrsteilnehmer wie zum Beispiel Fahrgäste die Protagonisten interessierten.
„Die Grünen haben sich als Fahrradpartei positioniert“
Vor diesem Hintergrund war der Wahlkampf 2016 im Bereich des Verkehrs sehr stark auf das Fahrrad fokussiert. Grundsätzlich ist das Fahrrad – wie eingangs erläutert – wichtig. Jedoch geriet dabei der ÖPNV ein Stück weit in den Hintergrund.
Den Parteien der Koalition gelang es ab 2016, mit dem Rahmenwerk eines Mobilitätsgesetzes statt nur eines Radgesetzes auch bessere Bedingungen für den ÖPNV zu schaffen. Im Verlauf der Aktivitäten des Volksentscheids Fahrrad hatten sich vor allem die Grünen als Fahrradpartei positioniert. Insgesamt war jedoch die Koalitionsvereinbarung von 2016 auch ein großer Schritt für den ÖPNV. Viele Forderungen und Anregungen der IGEB wurden übernommen, vor allem beim Ausbau der Straßenbahn. Auch waren Angebotsausweitungen geplant, die zumindest im Bereich der S-Bahn realisiert werden konnten.
So hatte ich mit der Übergabe des Verkehrsressorts an Vertreterinnen und Vertreter der Grünen große Erwartungen. Diese Erwartungen bezogen sich nicht so sehr darauf, dass jetzt jedes Straßenbahnprojekt sofort und in Gänze geplant, gebaut und fertiggestellt wird. Allerdings sollten zum Ende der Legislaturperiode 2021 immerhin vier Straßenbahnprojekte vollendet werden. Bekanntermaßen kam es anders.
Über Radwege, Lastenfahrräder und Kiezblocks geht es meist nicht hinaus
Wichtiger war und ist mir, dass es ein breites Bündnis für die Verkehrswende gibt. Es wäre die Kernaufgabe, insbesondere in der Amtszeit von Regine Günther gewesen, dieses Bündnis zu schmieden. Zwar konzentrierte man sich auf den Abschluss des Mobilitätsgesetzes. Aber es gab kaum Gesprächsthemen für die Grünen, die über Radwege, Lastenfahrräder und Kiezblocks hinausgegangen wären.
Ein realistisches Programm, das eine attraktive Entwicklung des ÖPNV in den Außenbezirken vorsah, vermisste ich schmerzlich. Dazu kam, dass ein Teil der Grünen in dieser Zeit nach 2016 fast jede Kritik an ihrer Verkehrspolitik selbst von langjährigen verkehrspolitischen Weggefährten geradezu als Majestätsbeleidigung ansah. Die in vielfacher Hinsicht ungeeignete Senatorin Regine Günther schottete sich in ihrer Verwaltung regelrecht ab. Es gab lange Zeit keinen kontinuierlichen Austausch zwischen Verbänden wie der IGEB und der Senatsverkehrsverwaltung. So wurden bei der Ausarbeitung des Mobilitätsgesetzes die Fahrgastverbände nicht konsultiert.
„Zu stark auf die Bedürfnisse eines innerstädtischen Bürgertums konzentriert“
Warum auch ich Regine Günther als ungeeignet angesehen habe? Sie war nicht in der Lage, auf akute Probleme des Berliner Verkehrs einzugehen. So kam es zum Beispiel im Herbst 2018 zu einem dramatischen Einbruch in der Betriebsqualität der Berliner U-Bahn. In dieser Zeit gab es keine öffentlich wahrnehmbare Einflussnahme aus ihrem Hause gegenüber der BVG. Auch als zu Beginn der Pandemie die BVG im Gegensatz zum Beispiel zur S-Bahn durch unabgestimmte Kürzungen des Fahrplanangebots für überfüllte U-Bahnen und Busse sorgte, gab es von Regine Günther keine Reaktion. In dieser Situation unterblieb auch eine entsprechende Einflussnahme auf das Unternehmen durch Ramona Pop, die damalige Aufsichtsratsvorsitzende der BVG.
Spätestens mit dem bösartigen Abservieren des Staatssekretärs Jens-Holger Kirchner durch Regine Günther hätte es die Gelegenheit für ihre Partei gegeben, sie als Senatorin zu ersetzen. Diese Chance wurde nicht genutzt.
Ich kritisiere die Verkehrspolitik der Berliner Grünen auch deshalb, weil ich sie im Kern als unsozial ansehe. Sich zu stark auf die Bedürfnisse eines innerstädtischen Bürgertums zu konzentrieren, das sehr stark fahrradaffin ist, vernachlässigt die Bedürfnisse Hunderttausender Berlinerinnen und Berliner, die im Tarifgebiet B leben. Und damit meine ich natürlich nicht zuallererst in Zehlendorf oder Westend. Ich denke dabei insbesondere an die Großsiedlungen in beiden Teilen Berlins. Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendwann nennenswerte Ideen für eine bessere Erschließung dieser Areale gab, die über das BVG-Busangebot hinausgegangen wären. Beispiele sind das Falkenhagener Feld oder das Kosmosviertel, die Plattenbausiedlung in Altglienicke.
Wer das Wälzen von Findlingen in Kreuzberger Nebenstraßen und das Aufstellen von Sitzgruppen in der Friedrichstraße als Kern der Verkehrswende verkauft, der darf sich nicht wundern, insbesondere außerhalb des Hundekopfes zu wenige Wähler zu gewinnen.
Es war definitiv richtig, dass es mit der Wahl 2021 im Amt der Senatorin einen Wechsel gab. Und aus meiner Sicht hatte Bettina Jarasch deutlich bessere und andere Ideen für den ÖPNV als ihre Vorgängerin. Natürlich gehört es zum politischen Geschäft, dass es im Detail sicherlich Kritik gab. Trotzdem ergab sich sehr schnell ein anderer aktiver Austausch gegenseitiger Positionen.
Diese Haltung ist aber bei vielen anderen Grünen aus meiner Sicht noch nicht richtig angekommen. Noch immer wird dort das Fahrrad als Allheilmittel gesehen. Die Probleme, aber auch die Potenziale des ÖPNV werden nicht richtig erkannt. Die jetzige Krise beim Bus ist auch Ergebnis von Versäumnissen der Politik von 2016 bis 2023.
So wären zum Beispiel als Kompromisslösung kombinierte und überbreite Fahrrad- und Busspuren eine einfache Möglichkeit, um Fahrrad und Bus gemeinsam zu bevorzugen. Solche Möglichkeiten scheinen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg allerdings unmöglich zu sein. Nur so ist es zu erklären, dass der hochgelobte zuständige Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes mir gegenüber offen sagte, dass das Fahrrad auch gegenüber dem Bus zu bevorzugen sei. Das sei sein politischer Auftrag, den er 2019 von der Bezirksbürgermeisterin bekommen habe.
Diese dem Mobilitätsgesetz zuwiderhandelnde Vorgehensweise führt dazu, dass auch in Friedrichshain-Kreuzberg Busse immer langsamer werden. Das kann man bald in der Köpenicker und Schlesischen Straße begutachten, wo demnächst die Busse durch einen falsch angelegten Radweg noch langsamer werden. Damit steht auch der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nicht für die Verkehrswende im ÖPNV. Für mich sind die Berliner Grünen eine Partei der Fahrradaktivisten mit einer homöopathischen Prise ÖPNV.
„Die Verkehrssenatorin wirkt farblos“
Im April 2023 ist das Verkehrsressort nun an die CDU gegangen. Ähnlich wie ihre Vorvorgängerin Regine Günther ist Manja Schreiner ein in der Verkehrspolitik unbeschriebenes Blatt. In der Vielzahl von allgemeinen Floskeln fehlen mir bisher echte Akzente, die den verkehrspolitischen Alltag der Fahrgäste in Berlin durchgreifend verbessern. Die aktuelle Krise der BVG wird ähnlich schlecht gemanagt wie die U-Bahn-Krise im Herbst 2018, nämlich gar nicht.
Vor diesem Hintergrund ist die Neben-Verkehrspolitik insbesondere des Berliner Fraktionsvorsitzenden der Berliner CDU, Dirk Stettner, für den Berliner Nordosten einigermaßen surreal. Das gilt für die Wiederbelebung der Idee einer Magnetschwebebahn an dieser Stelle ebenso wie die gigantischen U-Bahn-Planungen. Er wird dabei assistiert vom verkehrspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion Johannes Kraft. Die Verkehrssenatorin wirkt dabei farblos.
So könnte sie in Berlin aussehen, die fahrerlose, automatische Magnetschwebebahn, die das Bauunternehmen Baufirma Max Bögl bereits auf einer Versuchsstrecke im Süden Deutschlands testet. Bereits 2020 hat die Berliner CDU ein solches Personentransportsystem für Berlin vorgeschlagen. Nun wurde der Wunsch bekräftigt.
So könnte sie in Berlin aussehen, die fahrerlose, automatische Magnetschwebebahn, die das Bauunternehmen Baufirma Max Bögl bereits auf einer Versuchsstrecke im Süden Deutschlands testet. Bereits 2020 hat die Berliner CDU ein solches Personentransportsystem für Berlin vorgeschlagen. Nun wurde der Wunsch bekräftigt.Visualisierung: Firmengruppe Max Bögl
Stellt sich die Frage, was Dirk Stettner und Johannes Kraft mit dem Feuerwerk verkehrspolitischer Absurditäten erreichen wollen? Eine realistische und vor allem zeitnahe Verbesserung der Probleme des ÖPNV ist damit weder im Nordosten und schon gar nicht für ganz Berlin zu erreichen. Das wurde allerdings in den letzten anderthalb Monaten hinreichend erörtert. Man muss eines dabei jedoch feststellen: Die Berliner CDU ist mit diesen Vorschlägen beherzt in die Lücke gesprungen, die die Berliner Grünen hinterlassen haben.
Die CDU stellt sich als Macher-Partei dar, die sich um alle Teile Berlins kümmert. Ob diese Pläne dann realistisch sind, das wird nicht einmal ansatzweise in dieser Legislaturperiode zu überprüfen sein. Es sind Vorschläge für den Sank-Nimmerleins-Tag. Im besten Falle.
Und die Berliner SPD? Sie schwankt zwischen einerseits guten Ideen für den ÖPNV und andererseits Gefangensein in einer Koalition, die dann doch mal wieder nur ein fauler Kompromiss für den ÖPNV ist. Eine U7 zur Heerstraße und zum BER wird die Berliner Probleme kaum lösen – schon gar nicht vor 2040.
Der Berliner Linkspartei ist zwar die grundsätzliche Bedeutung des ÖPNV klar, aber ihr politischer Einfluss ist in diesem Bereich ziemlich gering. Und währenddessen steht der Fahrgast frierend an der Bushaltestelle oder kuschelt in überfüllten U-Bahnen.
Forderung: Mit der U9 künftig auch nach Pankow und Lankwitz
Aber das alles bringt mich nicht davon ab weiterzumachen. Meine Hoffnung für die Zukunft ist, dass es endlich gelingt, ein breites Bündnis für eine Verkehrswende zu formen. In diesem Bündnis müssen die verschiedenen Akteure konstruktiv miteinander zusammenarbeiten. Um es konkret zu benennen: Zukünftig muss viel stärker beachtet werden, dass der Radwegeausbau nicht so geschieht, dass Straßenbahn und Bus noch langsamer werden. Auch Bushaltestellen sind keine Manövriermasse für schnelle Radwege. Das erfordert von allen Akteuren ein stärker integratives Denken und Handeln. Das Dogma der „autogerechten Stadt“ durch das Dogma der „fahrradgerechten Stadt“ zu ersetzen, wäre für mich kein Fortschritt.
Die aktuelle Krise der BVG muss überwunden werden. Wie das geht, hat die S-Bahn seit 2009 vorgemacht. Berlin wächst. Dazu gehört auch ein kluger Ausbau der Schienensysteme in Berlin. Nein, ich denke nicht nur an die Straßenbahn. Auch die U-Bahn kann und sollte verlängert werden, so die U9 sowohl im Norden Richtung Pankow als auch im Süden Richtung Lankwitz.
Aber dazu mehr im Frühling 2024.