Soyons honnêtes, qui entre nous européens est assez attiré par les pays lointains pour y passer plus qu’un séjour touristique ? Qui est assez riche pour se rendre dans les contrées lointaines de ses rêves ? La plupart d’entre nous accepte un destin préconfiguré qui une fois arrivé á l’age adulte nous fait paraître une vie exceptionnelle hors de notre portée. En fin de compte nous sommes heureux de ne pas être obligés à dépasser les limites.
4.8.2023 von Rahel von Wroblewsky| - Meine Mutter war Romanistin, sie hat an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin studiert, sie hat fließend Französisch gesprochen, sie hat Bücher aus dem Französischen übersetzt, Filme im Studio Camera in der Oranienburger Straße eingesprochen, französische Chansons gehört, Gedichte auf Französisch gelesen, aber sie war niemals in Frankreich oder in einem anderen frankophonen Land.
Sie war 19, als die Mauer gebaut wurde und 47, als sie fiel. Die Ost-Berliner Jahre dazwischen waren, was fremde Sprachen und Kulturen anbelangte, karg. Es gab so gut wie keine französischen Muttersprachler:innen in diesem Teil der Stadt, mein Vater war einer der wenigen von ihnen, zwar Deutscher, aber im Exil seiner Eltern in Frankreich geboren, doch meine Eltern trennten sich, als ich ein Jahr gewesen war.
Vor kurzem war ich in Marokko und habe meinen Freund besucht. Mein Freund ist in der Elfenbeinküste geboren, seine Muttersprache ist Französisch, und an einem Abend saßen wir mit seinen Freunden auf einer Terrasse in Marrakesch, wir aßen, tranken Wein, die Freunde sprachen auf Französisch, zwischendurch spielte mein Freund Gitarre und der Abend war nach der Hitze des Tages herrlich frisch.
Das Essen war fantastisch, ich liebte es, der melodiösen Sprache zu lauschen, meinem Freund beim Spielen zuzuhören, ich sah auf die Palmen vor dem Haus bis zu den Bergen des Atlas am Horizont, und ich spürte, wie glücklich ich in diesem Moment war.
Ich spreche kein Französisch, ich habe es nie gelernt. Mit siebzehn habe ich es kurz versucht, zwei Monate lang an einer Volkshochschule in Ost-Berlin, weil es an den meisten ostdeutschen Schulen keinen Französischunterricht gab, aber ich habe damit schnell wieder aufgehört. Es ergab keinen Sinn.
Es gab niemanden, mit dem ich diese Sprache hätte sprechen können, geschweige denn ein Land, in das ich hätte fahren dürfen, um sie zu praktizieren. Mein Vater war mir damals fremd. Wir hatten keinen Kontakt, seit meine Eltern geschieden waren, und das Verhältnis zu meiner Mutter war nicht gut. Ich hatte keinen Bezug zu ihrer geliebten Sprache, vielleicht auch, weil ich kaum einen Bezug zu ihnen hatte, im Gegensatz zu meiner Großmutter, bei der ich aufgewachsen war.
Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist das Lied „Bruder Jakob“, das meine Mutter mir manchmal auf Französisch vorgesungen hat. „Frère Jacques, dormez-vous?“. Ein unverständliches Lied aus einem abstrakten Land, von dem ich keinerlei Vorstellung besaß.
Neben ihrem Studium der Romanistik hatte meine Mutter Theaterwissenschaften studiert. Nach dem Abschluss ist sie als Dramaturgin ans Volkstheater nach Bautzen gegangen, während ich in Berlin bei meiner Großmutter blieb.
Später wurde ihr eine befristete Stelle am Berliner Ensemble angeboten, die nach einem Jahr in eine feste Stelle gemündet hätte, aber sie hat diese Stelle abgelehnt. Das Theater war ihr zweiter großer Traum.
Einmal hat sie mir gegenüber erwähnt, sie hätte diese Stelle wegen mir nicht annehmen können, als alleinerziehende Mutter sei es zu unsicher gewesen, sich auf eine Probezeit einzulassen, und ich glaube, dass sie mir das zeit ihres Lebens unbewusst vorgeworfen hat.
In der DDR aufgewachsen
Nach dem Zwischenspiel in Bautzen hat meine Mutter keine Kunst mehr gemacht, sie hat sie nur noch verwaltet. Sie hat zuerst im Filmarchiv der DDR gearbeitet, später im Schriftstellerverband der DDR Autor:innen betreut.
Sie war zuständig für die Dramatiker:innen und Kinderbuchautor:innen und manchmal hat sie eine Rezension für eine Zeitung geschrieben oder eine Kritik zu einem Theaterstück. Sie hat zugesehen, wie andere die Träume lebten, die sie sich verboten hat. Ins Theater ging sie nur noch als Zuschauerin und Frankreich blieb ihr nach wie vor verschlossen. Nach der Wiedervereinigung wurde der Schriftstellerverband der DDR aufgelöst und meine Mutter arbeitslos, davon hat sie sich nie wieder erholt.
Sie hat noch ein paar Jahre in verschiedenen ABM-Stellen gearbeitet und Berlin danach verlassen. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie sich nach Süddeutschland zurückgezogen und ihre Zeit damit verbracht, ein altes marodes Haus wiederaufzubauen, das sie in einem kleinen Dorf gekauft hatte, für wenig Geld. Ich habe nie verstanden, warum meine Mutter nach der Wende kein einziges Mal nach Frankreich gefahren ist.
An diesem Abend auf der Terrasse in Marrakesch passierte etwas Seltsames mit mir. Vielleicht waren es die Palmen vor dem Haus, vielleicht der Klang der französischen Sprache, vielleicht eine Kombination aus beidem.
Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass ich als Jugendliche der Überzeugung gewesen war, ich würde nie in ein Land reisen können, in dem es Palmen gibt. Ich musste daran denken, wie eingesperrt ich mich damals gefühlt hatte, wie ohnmächtig, mit dieser Mauer rundherum um mein Land. Wie groß meine Sehnsucht nach der Welt gewesen war.
Eingesperrt gefühlt
Wie gerne hätte ich im Ausland studiert, wie gerne eine andere Sprache erlernt. Als die Mauer sich öffnete, war ich 25, studierte Philosophie an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und hatte eine Tochter, die ich allein großzog. Ich konnte nicht mehr so einfach ins Ausland gehen, und in den folgenden dreißig Jahren habe ich meine Träume vergessen.
Ich habe an die Mauer nicht mehr gedacht, aber trotzdem war sie noch da. Ich trug sie in mir, sie hat mich seitdem begleitet, ohne dass ich sie wahrnehmen wollte, aber an diesem Abend in Marrakesch habe ich sie gespürt. Ich habe sie gespürt, weil sie plötzlich verschwunden war.
Ich war draußen, ich war in der Welt, die ich als Jugendliche nur aus der Ferne hatte betrachten können, ich spürte dieses riesige Glücksgefühl, und in diesem Moment waren mir meine Eltern plötzlich ganz nah.
Es ist nicht wahr, dass sie mir nichts mitgegeben haben, sie haben mich beeinflusst in meinem Lebensgefühl. Von ihnen habe ich meine Liebe zu Sprachen geerbt, ihre Liebe zur Literatur, durch sie habe ich gutes Essen und Trinken schätzen gelernt, und als mein Freund erzählte, dass sein Vater ein großer Weinkenner gewesen sei und wie genüsslich er bei Gesellschaften Weine dekantiert hatte, lächelte ich ihn wissend an.
Manchmal habe ich mir vorzustellen versucht, wie sich meine Eltern gefühlt haben müssen, als die Mauer gebaut wurde, ohne Vorankündigung, über Nacht. Der Feuilletonist und Chronist der Berliner Stadtgeschichte Heinz Knobloch hat einmal darüber geschrieben: „Als Kind hatte ich vor, eines Tages bis zum Ende der Welt zu laufen. … Nun ist es selber gekommen. Man hat es vor der Haustür.“
Ich stelle mir vor, dass es für meine Eltern so gewesen sein muss. Sie waren so jung, meine Mutter war 19, mein Vater 22 Jahre alt, sie waren Studenten, sie sprachen mehrere Sprachen, sie hatten Freunde in aller Welt, sie waren neugierig, abenteuerlustig, voller Pläne und Projekte, wie man es als junger Mensch eben ist – haben sie sich nicht amputiert gefühlt, zu Boden gerissen, mitten im Sprung?! Waren sie nicht mit einem Mal vollkommen abgeschottet, isoliert?!
Mit der Mauer arrangiert
Mein Vater hat mir einmal erzählt, sie hätten geglaubt, dass es nur eine vorübergehende Absperrung gewesen sei. Aber wie haben sie sich gefühlt, als sie begreifen mussten, dass diese Mauer für länger stehen bleiben wird? Wie haben sie sich mit ihr arrangiert?
Ich bin 1964 geboren, hineingeboren in die ummauerte DDR, in den ummauerten Teil Berlins. Die Mauer war ein fester Bestandteil meines Lebens, ich habe versucht, sie zu verdrängen, aber gleichzeitig habe ich mir nie vorstellen können, dass sie eines Tages nicht mehr existiert.
Für mich hatte sie den Charakter der Ewigkeit. Sie war der schmerzhafte Teil meines Lebens, an ihr endeten meine Träume, an ihr zerbrach meine Liebe zu einem Mann, der nach seinen Besuchen in den unerreichbaren Teil der Welt verschwand, hinter ihr fanden Konzerte statt, die ich niemals besuchen konnte, sie war der Ursprung meines Fernwehs, das bis heute an mir zerrt.
Als sie sich nach 28 Jahren öffnete, erlebte ich die unglaublichste Nacht meines Lebens. Eine Nacht, die mir bis heute unwirklich erscheint. Natürlich bin ich nach der Maueröffnung durch die Welt gereist, anders als meine Mutter, ich bin in New York gewesen, in Buenos Aires, in Lima und in Wien, an der dänischen Ostseeküste, am Atlantik und am Mittelmeer, ich habe meinen Vater in Frankreich besucht, wo er inzwischen wieder lebt, ich war in Kambodscha, in Kroatien, in Italien und an vielen anderen Orten dieser Welt, aber nirgendwo konnte ich länger bleiben.
Doch inzwischen bin ich frei. Meine Kinder sind erwachsen, nichts hält mich mehr zurück, und im nächsten Jahr werde ich für mindestens drei Monate ins Ausland gehen. Vielleicht nach Marokko, vielleicht an einen anderen Ort in der Welt, doch zunächst fange ich einen Französischkurs an.
Ich träume davon, diese Sprache doch noch zu lernen, in einer Umgebung, in der ich sie hören, lesen, sprechen, riechen und schmecken kann. Die Mauer ist offen, sie existiert nicht mehr, seit 34 Jahren schon, sie kann mir nichts mehr anhaben, aber für meine Mutter kam ihre Öffnung zu spät.
Als ich auf der Terrasse in Marrakesch an diese Zeit dachte, kamen mir die Tränen. Ich weinte nicht nur, weil ich so glücklich war, sondern auch, weil ich an meine Mutter denken musste, und ich habe mich dann verstohlen von der Gesellschaft weggeschlichen, mich auf die Brüstung der Terrasse gelehnt, meinen Tränen freien Lauf gelassen und dabei auf die Palmen vorm Haus und in die Ferne geblickt.
Rahel von Wroblewsky, geboren 1964, ist Schriftstellerin und Lektorin. Sie lebt in Berlin.