Der geheime SEZ-Architekt Günter Reiß: „Mir blutet das Herz, wenn ich mein Werk heute sehe“
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Für unseren Fotografen hat Günter Reiß noch einmal vor dem Gebäude posiert, das er einst entworfen hat. Leicht fiel ihm das in Anbetracht des Zustands des SEZ nicht. Foto Emmanuele Contini
14.1.2024 von Anne Vorbringer - Dass Günter Reiß die einstige DDR-Badeberühmtheit SEZ geplant und geprägt hat, durfte lange niemand wissen. Jetzt erzählt er seine Geschichte.
„Der Großstadtbürger verfügt heute über ausreichend Freizeit, die er zunehmend zur Erholung und Entspannung bei sportlicher Betätigung nutzt. Dem Ziel, Einrichtungen für Publikumssport und Freizeitbetätigung im Stadtzentrum von Berlin (DDR) zu schaffen, diente ein im Sommer 1977 erarbeitetes Rahmenprogramm zur Errichtung einer großzügigen Freizeitanlage.“ Dieser Text steht in einem Magazin des Bauunternehmens Hochtief aus dem Jahr 1982. Es geht darin um das SEZ an der Kreuzung Leninallee/Dimitroffstraße (heute Landsberger Allee/Ecke Danziger Straße) in Friedrichshain, das ein Jahr zuvor mit großem Pomp eröffnet worden war.
Weiter heißt es im Heft: „Kommerzielle Überlegungen standen im Hintergrund, die erholende, entspannende, sportlich-spielerische Wirksamkeit war entscheidend. Das Sport- und Erholungszentrum wurde am 20. März 1981 nach dreijähriger Planungs- und Bauzeit fertiggestellt. Berlin wurde um ein Stück künstlerisch gestalteter Wasser- und Erholungslandschaft reicher.“
All das ist lange her – und um das SEZ ist es inzwischen schon seit vielen Jahren schlecht bestellt. Jetzt hat der Senat als Wiedereigentümer entschieden, dass der gesamte Komplex abgerissen werden soll. Auf unseren Social-Media-Kanälen und in zahlreichen Leserbriefen, die die Berliner Zeitung in den letzten Tagen erreichten, zeigt sich jede Menge Unverständnis, Traurigkeit, Wut über die Abrisspläne.
Es hat sich aber auch ein Mann bei uns gemeldet, der in ganz besonderer Weise mit dem SEZ verbunden ist. Günter Reiß, heute 83 Jahre alt, hat das SEZ damals als Architekt bei Hochtief maßgeblich geplant und entworfen. Sein Name ist auch im oben genannten Heft als einer der Entwurfsverfasser genannt. Offiziell aber durfte Reiß lange nicht auftauchen, besonders auf der DDR-Seite nicht. Bis heute ist häufig von schwedischen Architekten die Rede, die das SEZ geplant hätten. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, wie uns Günter Reiß beim Besuch in der Redaktion erzählt.
Er hat die Pläne von damals mitgebracht, die Originalentwürfe für das SEZ, die seinen Namen tragen. Er breitet sie vor sich auf dem Tisch aus, dann erzählt er seine Geschichte.
Die Entwürfe sind alle noch da: Günter Reiß zeigt Skizzen und Originalpläne vom SEZ.Herr Reiß, wann haben Sie zum ersten Mal von den Plänen für ein neues Sport- und Erholungszentrum in Ost-Berlin gehört?
Das war 1977, damals arbeitete ich als Architekt bei Hochtief in West-Berlin. Dort erreichte uns ein Schreiben von der Aufbauleitung Sondervorhaben Berlin, die in der DDR prominente Bauprojekte wie den Palast der Republik organisiert hat. Der dortige Chef, Erhardt Gißke, wollte Hilfe von Hochtief bei der Planung eines multifunktionalen Zentrums für Sport und Erholung, eben das spätere SEZ. Also malten wir Pläne, warfen Kreise und Linien aufs Papier, entwarfen die einzelnen Bereiche, schickten Skizzen hin und her, von Ost nach West und zurück. Immer alles schön doppelt, damit in den DDR-Dokumenten nur die Aufbauleitung Sondervorhaben stand, und im Westen eben der West-Konzern Hochtief.
Als Anfang 1978 die offizielle Ausschreibung vom zuständigen Außenhandelsunternehmen Limex kam, haben unsere Chefs bei Hochtief gesagt, jetzt müssen wir auf den Putz hauen. Also zeichnete ich los, Tag und Nacht, im Büro und zu Hause. In unserer Küche habe ich sogar Gardinenmuster gefärbt. Schließlich bekamen wir den Auftrag, aber mein Name durfte bei den DDR-Offiziellen nicht auftauchen.
Warum denn nicht, schließlich waren das doch Ihre Entwürfe?
Ich bin 1972 aus dem Ostteil der Stadt nach West-Berlin geflüchtet. Wenn herausgekommen wäre, dass ein DDR-Flüchtling beteiligt ist, hätte unser Entwurf in dem Wettbewerb keine Chance gehabt. Also wurde der Name nicht genannt. Ich war auch nie auf der Baustelle, war bei der Eröffnung nicht dabei. Ich habe das SEZ, mein Herzensprojekt, erst viel später gesehen.
Wie konnten Sie, ohne vor Ort zu sein, so ein Prestigeprojekt planen?
Ich kannte die Ecke sehr gut. In meiner Ost-Berliner Zeit habe ich in der Heinrich-Roller-Straße gewohnt, also nur einen Steinwurf von der Leninallee entfernt. Ein weiterer Vorteil: Als in der DDR ausgebildeter Architekt und Ingenieur kannte ich die Technischen Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen (TGL), also sozusagen die DIN-Normen des Ostens.
Warum haben Sie sich damals entschieden, die DDR zu verlassen?
Ich hatte Freunde in West-Berlin, die uns geholfen haben. Sie haben mit einem österreichischen Spediteur die Fluchtroute über die Tschechoslowakei und Österreich nach West-Berlin organisiert. Ein Jahr später gelang es dann auch, meine Frau nachzuholen. Was soll ich sagen, uns ging es eigentlich gut in der DDR, wir wurden nicht verfolgt oder so was. Ich wollte nicht zur Armee, hatte Bedenken, doch noch eingezogen zu werden. Aber sicher waren wir auch ein wenig arrogant. Wir dachten, auf der anderen Seite der Mauer wartet bestimmt Größeres, Besseres auf uns.
Und mit dem SEZ haben Sie dann vor der Wiedervereinigung sozusagen schon ein deutsch-deutsches Projekt geplant.
Ja, nur dass das damals niemand wissen sollte. Doch die eigentliche architektonische Leistung, vom Entwurf über die Ausführungsplanung bis hin zur Statik, die lag bei uns, bei Hochtief. Eine schwedische Baufirma bekam dann den Auftrag für die Ausführung der Stahlbetonarbeiten – nach unseren Entwürfen.
Jedenfalls habe ich mich damals richtig reingekniet. Als Planer hatte ich das Areal genau vor mir, und auch die Ideen flossen nur so aus mir heraus. Besonders wichtig war mir das Kaskadenbecken. Meine Frau und ich sind viel gereist und waren immer begeistert von Wasserfällen in der Natur. Im SEZ bot sich dieser Geländesprung an: Die Wasserkaskade folgte dem Höhengefälle zwischen dem Wellenbad und der anderen, weiter unten gelegenen Badehalle über verschiedene Becken.
Wenn man ehrlich ist, war das ein sehr avantgardistischer Entwurf, den die DDR allein nicht hätte umsetzen können. Schon beim Palast der Republik kam ja zum Beispiel der Stahl der Grundkonstruktion aus Schweden. Und so ist im SEZ eben neben Materialien aus Meißen oder vom VEB Stuck und Naturstein, neben organisatorisch-planerischer Expertise aus dem Osten, auch viel Know-how aus dem Westen eingeflossen. Die großen Glasfronten zum Beispiel: Die Scheiben dafür kamen aus Westdeutschland.
Große Fensterfronten, prismatische Glasdächer, leichte Materialien und ein Außenbecken, in dem man auch im Winter schwimmen konnte: Das SEZ war State of the Art. Fito Peter MeissnerWas ist aus Ihrer Sicht neben dieser wenig bekannten Zusammenarbeit das Besondere an der SEZ-Architektur?
Es ist ein offener, moderner Bau mit einer damals sehr fortschrittlichen Wärmerückgewinnungstechnik. Überhaupt haben wir alles auf dem neuesten Stand der Technik geplant, die Eingangsautomatik, die Duschen, die Trennwände, das Beleuchtungskonzept. Die DDR hat sich nicht lumpen lassen, wenn es um ihre Vorzeigeprojekte ging.
Als das SEZ eröffnet wurde, verglich man es in den Zeitungen mit einem Ufo, das auf einmal gelandet war. Die Entstehung war für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich, weil es vorher nicht die üblichen jahrelangen Planungen gegeben hatte. Das lag daran, dass es praktisch eingekauft wurde. Und so war es dann auch nach zwei Jahren Bauzeit schon fertig.
Nach der Eröffnung wollten alle DDR-Bürger rein, die langen Schlangen vor dem SEZ waren legendär.
Es war ein Bad für die Bevölkerung. Und es war einfach schön, weil es so viel zu bieten hatte. Nicht nur Badespaß, sondern Eislaufen, Rollschuhlaufen, Gymnastik, Ballsport, Bowling, Restaurants, Kneipen, Theater … Hier wurde gefeiert und geträumt. Das SEZ war so eine Art Karibik-Ersatz.
Weit mehr als eine Schwimmhalle: Hier sitzen Freundinnen 1988 mit ihren Rollschuhen auf einer Bank und warten auf die nächste Runde.Weit mehr als eine Schwimmhalle: Hier sitzen Freundinnen 1988 mit ihren Rollschuhen auf einer Bank und warten auf die nächste Runde.Pemax/Imago
Dass Sie trotz Ihrer Planung nicht beim Bau und der Eröffnung dabeisein konnten, dass Ihr Name nicht auftauchte, wie war das für Sie?
Da ich all mein Herzblut für das SEZ aufbrachte, war das sicher nicht immer einfach. Aber ich habe mir von meinen Kollegen immer berichten lassen, wie es auf der Baustelle aussah, habe Fotos vom Rohbau gesehen, wie der VEB Ausbau Berlin nach unseren Skizzen den Innenausbau richtig toll umgesetzt hat.
Besonders stolz war ich darauf, dass wir für den Brandschutz ohne Asbest auskamen. Als man später nach der Wende nach einem Grund für den SEZ-Abriss suchte, kam Asbest zumindest nicht in Frage, so wie beim Palast der Republik. Wir haben das SEZ mit einem anderen System geschützt, da habe ich mich schon drüber gefreut.
Ansonsten taucht ja mein Name inzwischen in Architekturführern über die sogenannte Ostmoderne auf – und auch im Wikipedia-Artikel über das SEZ werde ich genannt.
Wann haben Sie Ihr Werk zum ersten Mal live und in Farbe gesehen?
Das war 1988, als mein Vater starb. Damals durfte ich zu seiner Beerdigung nach Dresden fahren, und auf der Rückfahrt hielten meine Familie und ich am SEZ. Es war 18 Uhr und wir aßen etwas unten in der Bowlingbahn. Ich fand’s toll, endlich dort zu sein. Es war so, wie ich es geplant hatte.
Kurz danach fiel die Mauer, nach und nach wurden der Betrieb der Sportstätten und der Veranstaltungsbetrieb eingestellt und fast die gesamte SEZ-Belegschaft entlassen. Auch der Badebetrieb lief nach der Wende nicht mehr so gut. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Menschen wollten raus aus Berlin, sie wollten reisen oder in eines der neu erbauten Freizeit- und Thermalbäder nach Brandenburg fahren. Wirtschaftlich war das SEZ nicht mehr zu betreiben. Das war es ja in der DDR schon nicht: Die Eintritts- und Restaurantpreise waren hochsubventioniert und es gab ehrlicherweise viel zu viele Mitarbeiter.
Den Spaß im Wellenbad ließ sich die DDR was kosten: Die Eintrittspreise waren hochsubventioniert.Nun verfällt das Gebäude schon seit Jahren.
Der Senat wollte es damals einfach nur loswerden. Ich habe die Geschichte natürlich verfolgt. Nachdem das SEZ 2003 für einen Euro an den Leipziger Investor verkauft wurde, bin ich sogar an Herrn Löhnitz herangetreten, habe ihm meine Hilfe angeboten. Aber er wollte davon nichts wissen. Ich glaube, er hatte immer nur das Grundstück und nie das SEZ im Sinn.
Mitte der Neunzigerjahre habe ich sogar mal Entwürfe gemacht für den Bezirk und den Senat. Es gab Investoren, die ein Kino im SEZ installieren wollten oder ein Sportkaufhaus. Daraus ist leider nie etwas geworden. Es ist schon sehr komisch, dass das Areal damals an Herrn Löhnitz ging.
Und nun kommt die Nachricht, dass der Senat den Abriss des SEZ plant. Was geht da in Ihnen vor?
Zunächst einmal ist es keine Überraschung, wenn man den Bebauungsplan kennt, der ja schon seit ein paar Jahren existiert. Es ist eine traurige Geschichte, die sich aber wohl nicht mehr verhindern lässt. Ich jedenfalls habe keine Macht, ich habe alles getan, was ich konnte.
€Verfall hinterm Bauzaun: Seit Jahren schon bietet das einstige Vorzeigebad einen traurigen Anblick._Was meinen Sie: Ist das SEZ wirklich nicht mehr zu retten?
Es ist immer alles möglich, wenn genug Menschen da sind, die etwas wollen. Die ganzen Anlagen auf Vordermann zu bringen, würde sehr viel Geld kosten. Und es fehlt der politische Wille. Das SEZ wird abgerissen, weil man jetzt halt viele Wohnungen braucht. Die könnte man natürlich auch am Rande des Tempelhofer Feldes bauen, und zwar sehr viel mehr als auf dem SEZ-Areal.
Viele unserer Leser schreiben, die Abrissentscheidung sei typisch für den Umgang mit Gebäuden, die für Ostdeutsche von Bedeutung waren.
Ich verstehe diesen Eindruck. Am SEZ hängen viele Erinnerungen, aber den Planern und Politikern fehlt in dieser Hinsicht oft jegliches Feingefühl. Ich jedenfalls war zur Ostpro-Messe vor vier Jahren das letzte Mal im SEZ und musste da sofort wieder raus. Alles war zerfleddert, überall lag Schrott herum, die neuen Farbanstriche waren furchtbar, es fehlten Decken und Böden. Mir blutete das Herz, als ich sah, was aus meinem SEZ geworden ist.
Zur Person
Günter Reiß, geboren 1940 in Dresden, studierte an der dortigen Technischen Universität Architektur und arbeitete dann noch zwei Jahre als Assistent an der Uni. In dieser Zeit war er an Planungen in der Leipziger Ostvorstadt und diversen Wohnungsbauprojekten beteiligt. 1969 wechselte er nach Ost-Berlin zu Hermann Henselmann an die Bauakademie.
Drei Jahre später flüchtete er aus der DDR und lebte fortan in West-Berlin, wo er zunächst beim Hochtief-Konzern angestellt war. Seit 1981 ist er als selbstständiger Architekt tätig und arbeitet mit seiner Frau, die ebenfalls Architektin ist, noch immer an Bauprojekten in und um Berlin. Günter Reiß plante noch weitere Schwimmhallen und Kinos in der Stadt, so leitete er unter anderem einen Umbau des Filmpalastes Berlin, der heutigen Astor Film Lounge am Kurfürstendamm.
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