• Was der Kaupert nicht weiß - Dunckerstraße in Grunewald
    https://m.kauperts.de/Strassen/Toni-Lessler-Strasse-14193-Berlin

    Der unsprüngliche Name Dunckerstraße erscheint nicht in der Geschichte der heutigen Toni-Lesser-Straße. Dabei ist sie gut dokumentiert. Was ist passiert?

    Details — Toni-Lessler-Straße
    PLZ 14193
    Ortsteil Grunewald
    ÖPNV Zone B Bus X10, M29
    Verlauf von Wernerstraße bis Hubertusbader und Kronberger Straße
    Falk Planquadrat O 10

    Zuständigkeiten — Toni-Lessler-Straße
    Arbeits­agentur Berlin Nord
    Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf
    Amts­gericht Charlottenburg
    Grundbuchamt Charlottenburg
    Familien­gericht Kreuzberg
    Finanz­amt Wilmersdorf
    Polizei­abschnitt A 22
    Verwal­tungs­bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf

    Geschichte — Toni-Lessler-Straße
    Alter Bezirk Wilmersdorf
    Alte Namen Seebergsteig (1936-2003)
    Name seit 1.9.2003

    Info Lessler, Toni, * 1874 Bückeburg, † 5.5.1952 New York, Pädagogin, Opfer des NS-Regimes.

    Die Umbenennung der mittigen Mohrenstraße war ein Verlust, geschuldet der Eulenspiegelei eines tansanischen Berliners und seiner fröhliche Wokistentruppe. Denen gelang es, die historisch nicht im Ansatz rassistische sondern im Gegenteil ehrend gemeinte Bezeichnung nach ihrem Verständnis umzudefinieren. Damit hat Berlin einen wichtigen Verweis auf Ereignisse und Topologie seiner Geschichte umd eine feste Orientierungsmarke im Stadtbild eingebüßt. Halb so schlimm, lustig war es anzusehen, wie die komplette BVV Mitte nach der Pfeife von ein paar selbsternannten Moralpredigern tanzte.

    Dem Seebergsteig hingegen trauert keine Menschenseele nach, abgesehen von 74 wegen der erforderlichen Adressänderung erzürnten Villenbewohnern. Die haben nur zähneknischend akzeptiert, dass Demokratie eben nicht die Ausweitung ihres Besitzrechts über den grunewalder Gartenzaun hinaus bedeutet. Das Regelwerk namens Demokratie, in dem alle ein bischen mitbestimmen können, haben sie dabei mit allem Nachdruck für die Beibehaltung des Nazinamens eingesetzt. Hat nicht geklappt, zum Glück.

    Über Straßennamen im Bezirk entscheidet das Bezirksamt und das wiederum wird von der Bezirksverordnetenversammung, der BVV kontrolliert. Dagegen kommt nur ein Senator oder der Regierende an, aber der wird den Teufel tun und es sich wegen einer Handvoll Villenbewihner aus dem noblen Grunewald mit der Öffentlichkeit verscherzen. Die mag keine Nazis mehr, zumindest nicht so offensichtliche.

    Sehr schön an der Geschichte ist die von der Villenfraktion ins Feld geführte Unterscheidung zwischen „kulturellen Antisemiten“, und „Vorbereitern des Holocaust“. Wer wenn nicht die deutschen „kulturellen Antisemiten“ kommt denn als „Vorbereiter des Holocaust“ in Frage? Ausschließlich die Teilnehmer der Wannseekonferenz? So hätten die Grunewalder Naziliebhager es wohl gern gehabt.

    In der ehemaligen Dunckerstraße stehen einige Villen aus der Zeit ihrer Umbenennung in den antisemitischen Seebergsteig. Die Erben ihrer Erbauer wollen sich anscheinend immer noch nicht eingestehen, worauf ihr heutiger Wohlstand beruht. Nazis, das waren immer die anderen, die Fanatiker. Man selber oder Opi war nur aus Pragmatismus dabei. Irgendwer musste ja das Geld von der Straße aufsammeln, seit die Juden das nicht mehr erledigten.

    Dunckerstraße
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stra%C3%9Fen_und_Pl%C3%A4tze_in_Berlin-Grunewald

    Die Straße wurde 1898 nach dem Verlagsbuchhändler, Publizist und Politiker Franz Duncker benannt. Mit der „Arisierung von Straßennamen“ in der NS-Zeit wurde am 14. April 1936 die Dunckerstraße nach dem NS-freundlichen Theologen in Seebergsteig umbenannt.

    Franz Duncker
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Franz_Duncker

    Franz Gustav Duncker (* 4. Juni 1822 in Berlin; † 18. Juni 1888 ebenda[1]) war ein deutscher Verleger, linksliberaler Politiker und Sozialreformer.

    Wieso wollten die Massenmörder aus ganz Deutschland, die Spree Killers United , eigentlich diesen ominösen Seeberg als einen der Ihren ehren?

    Reinhold Seeberg
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Reinhold_Seeberg

    Reinhold Seeberg (* 24. Märzjul. / 5. April 1859greg. in Pörrafer (Livland); † 23. Oktober 1935 in Ahrenshoop) war ein deutscher evangelischer Theologe.
    ...
    1918/1919 wurde er Rektor der Universität Berlin.
    ...
    Als Rektor initiierte Seeberg u. a. das Gefallenendenkmal der Berliner Universität[5], dessen lateinische Inschrift Invictis victi victuri („Den Unbesiegten die Besiegten, die siegen werden“) eine kaum verhüllte Aufforderung zur Revanche für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg war.[6] Als Rektor trug er auch dazu bei, dass die Universität dem jüdischen Mediziner Georg Friedrich Nicolai die venia legendi aberkannte. Nicolai hatte ab 1914 kriegskritische Schriften publiziert.
    ...
    In seine radikale Modernitätskritik mischten sich zunehmend antiliberale Töne sowie ein rassentheoretisch begründeter Antisemitismus. Als erster akademischer Theologe griff er die These auf, Jesus sei ein Arier gewesen.

    Verstehe, Theologen gehen immer, sind halt die Guten, die man immer zu (!) Weihnachten und vielleicht (auch !) zu Ostern in ihrem Gotteshaus besucht. Man zahlt ihnen sogar Steuern, so gut sind die. Und dann ist der Mann Seeberg ja lange vor dem Holocaust gestorben, kann also nicht dabei gewesensein. Perfektes Alibi, Euer Ehren.

    Berlin: Entscheidung im Streit um den Seebergsteig, Der Tagesspiegel vom 12.12.2002
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/entscheidung-im-streit-um-den-seebergsteig-956095.html

    Die Umbenennung des Seebergsteigs wird heute voraussichtlich in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) CharlottenburgWilmersdorf besiegelt – gegen den Willen der CDU und der meisten Anwohner der Straße in Grunewald. SPD, Grüne, FDP und PDS wollen die Bezeichnung nach Reinhold Seeberg (1859 bis 1935) ändern, weil der Theologe ein Antisemit und „Wegbereiter“ des Nationalsozialismus gewesen sei. Der neue Name Toni-Lessler-Straße soll eine jüdische Pädagogin ehren, die bis 1939 die „Private Waldschule Grunewald“ geleitet hatte.

    Am Dienstagabend stritten darüber ein Dutzend Anwohner mit Bezirksverordneten im Rathaus Wilmersdorf. 74 der rund 100 Anwohner haben schriftlich die Beibehaltung des Straßennamens verlangt. Das Treffen kurz vor der Entscheidung nannten sie eine „Alibi-Veranstaltung“. Zum wiederholten Mal hielten sich Gegner und Befürworter der Umbenennung einige Zitate aus Seebergs Schriften vor, um ihre Standpunkte zu untermauern. Die Anwohner beriefen sich besonders auf den Historiker Günter Brakelmann. Dieser sieht in Seeberg einen „kulturellen Antisemiten“, aber „keinen Vorbereiter des Holocaust“. Zum Ärger von Mario Blochwitz, dem Initiator des Protestschreibens, war Brakelmann nicht zum Treffen eingeladen worden.

    FDP-Fraktionschef Jürgen Dittberner erinnerte daran, dass der Seebergsteig einst Dunckerstraße hieß. Erst 1936 hätten „die Nazis Seeberg aufs Schild gehoben, um den anderen Namen zu tilgen“. Das sei für die FDP der entscheidende Punkt.

    Die CDU erneuerte ihren Vorschlag, den Namen Seebergsteig einfach anders zu deuten: Zusatztafeln sollten auf den Ortsteil Seeberg in Altlandsberg hinweisen, hieß es.

    Verwirrung gab es um die Kosten der Umbenennung. Das Bezirksamt hat 1000 Euro für vier neue Schilder errechnet, jedoch übersehen, dass es acht Schilder gibt. Die CDU kritisierte den finanziellen Aufwand. Zugleich verlangte der CDU-Verordnete Joachim Dannert allerdings, den Anwohnern die Kosten einer Adressenänderung zu erstatten.

    Die Bürger erwägen gerichtliche Schritte. Schon Mitte der 90er Jahre hatten sie gegen einen Umbenennungsbeschluss der BVV geklagt. Nach einer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht legten sie Berufung ein – bis die CDU vorübergehend die BVV-Mehrheit gewann und den alten Beschluss kippte. Trotz ihres Streits erklärten Anwohner und Politiker, einen Eklat wie bei der Rückbenennung der Jüdenstraße in Spandau vermeiden zu wollen. CD

    #Berlin #Grunewald #Toni-Lesser-Straße #Seebergsteig #Dunckerstraße #Mitte #Mohrenstraße #Antisemitismus #Straßenumbenennung #Geschichte #Nazis #Straßennamen #Bezirk #Bezirksamt #Bezirksverordnetenversammung #BVV

  • Taxi-Verbandschef Hermann Waldner: „Ich will nicht dabei zusehen, wie das Taxi vor die Hunde geht“
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berlin-taxi-verbandschef-hermann-waldner-ich-will-nicht-dabei-zuseh

    Die Welt ist schlecht. Dem Taxi geht es ebenso, und Waldi wird nostalgisch. War sooo ne schöne Zeit mit den Stasileuten vom VEB Taxi, nicht wahr?

    26.10.2023 von Peter Neumann - Der 9. November, Jahrestag des Mauerfalls, steht bevor. Hermann Waldner erinnert sich an die Zeit des Umbruchs. Als er den VEB Taxi erwarb und Markus Wolf, Chef der DDR-Auslandsspionage, zu seinen Kunden zählte. Als ehemalige Stasi-Mitarbeiter Fahrgäste chauffierten und die Polizei ein Taxi sicherstellte, dessen Kofferraum voll mit Waffen war. Waldner, der als Student in West-Berlin Taxi fuhr, kennt die Berliner Taxibranche wie kein anderer – als Unternehmer und Verbandschef. Doch heute gerät das Gewerbe immer stärker unter Druck. Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt Waldner, was die Politik unternehmen muss, um das Taxi zu retten – und warum das nötig ist.

    Herr Waldner, wie lange liegt Ihre jüngste Taxifahrt in Berlin zurück?

    Ich bin nicht so oft mit dem Taxi unterwegs, weil ich ein Privatauto habe. Aber vorgestern bin ich mal wieder Taxi gefahren. Vom Prenzlauer Berg, wo ich wohne, zum Hauptbahnhof.

    Wie war die Fahrt?

    Einwandfrei. Auch die Zahlung mit Apple Pay hat geklappt. Es ging so schnell wie mit keiner anderen Bezahlart. Das Trinkgeld konnte ich ganz einfach aufschlagen. Ich war sehr zufrieden.

    Taxis warten am Kurt-Schumacher-Platz im Nordberliner Bezirk Reinickendorf auf Fahrgäste. Im Dezember 2019 waren 8044 Taxikonzessionen vergeben, im September 2023 waren es laut Senat nur noch 5573.

    Taxis warten am Kurt-Schumacher-Platz im Nordberliner Bezirk Reinickendorf auf Fahrgäste. Im Dezember 2019 waren 8044 Taxikonzessionen vergeben, im September 2023 waren es laut Senat nur noch 5573.

    Gab es schon mal eine Taxifahrt in Berlin, bei der Sie sich geärgert haben?

    Nein, das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Ich bin aber auch keine gute Testperson, weil ich in der Taxibranche bekannt bin. Da müsste ich mir schon einen falschen Bart ankleben.

    Aber andere Taxifahrgäste beschweren sich.

    Meine Zentrale vermittelt in Berlin täglich im Schnitt rund 20.000 Taxifahrten. Da kommt es natürlich vor, dass sich Fahrgäste beschweren, das ist normal bei dieser großen Zahl von Aufträgen. Doch es sind nur wenige Beschwerden pro Tag. Der allergrößte Teil der Fahrgäste ist zufrieden.

    Worum geht es bei Beschwerden?

    Sehr oft um den Fahrpreis. Die heutige Generation, die viel übers Internet bestellt, ist nicht daran gewohnt, dass die Kosten einer Taxifahrt nicht von vornherein auf den Cent genau feststehen. Bislang gibt es in Berlin keine Festpreise fürs Taxi, das verstehen viele Kunden nicht. Manche von ihnen fühlen sich betrogen, wenn plötzlich ein paar Euro mehr auf der Uhr stehen, weil das Taxi im Stau aufgehalten worden ist. Das ist aber kein Betrug, das ist der Taxitarif. Weil dieses Thema immer wieder zu Reibereien führt, finden wir es gut, dass der Senat Anfang 2024 Festpreise ermöglicht.

    Rund 90 Prozent der Berliner Taxis dürfen zwar Fahrgäste zum Flughafen bringen, aber sie müssen den weiten Weg nach Berlin leer zurückfahren. Aus klimapolitischen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen ist das ein Unding.

    Hermann Waldner

    Manchmal beschweren sich Fahrgäste auch, weil ein Taxifahrer eine unnötig lange Strecke ausgewählt hat.

    Es kommt vor, dass ein Fahrer einen Umweg fährt, weil der direkte Weg durch ein Wohnviertel mit schmalen Straßen und Tempo 30 führt. Wenn er dies stillschweigend macht, ohne sich vorher mit dem Kunden abzustimmen, kann das Anlass einer Beschwerde sein – in der Regel zu Recht, wie ich finde.

    Als der Flughafen Tegel noch in Betrieb war, gab es haarsträubende Fälle. Betrügerische Taxifahrer forderten von Touristen Mondpreise – von Tegel nach Tempelhof 400 Euro.

    Bei diesen eklatanten Fällen ging es um Fahrer, die nicht am Taxifunk teilgenommen haben oder den Funk ausgeschaltet haben. Normalerweise lässt sich jede Fahrt, die per Funk vermittelt wird, nachvollziehen. Die GPS-Daten, mit denen das möglich ist, müssen eine Zeit lang aufbewahrt werden.

    Taxis am Flughafen BER. Bis zu 500 Berliner Taxen können eine Ladeberechtigung für den Flughafen erhalten. Steigt die Zahl der Fluggäste, kann die Zahl auf bis zu 550 erhöht werden.

    Seit drei Jahren ist Tegel geschlossen. Der neue Flughafen BER liegt in Schönefeld, ziemlich weit vom Stadtzentrum entfernt. Spielt der BER für Taxis noch eine Rolle?

    Für unser Gewerbe ist es ein Trauerspiel. Eigentlich könnten wir mit Flughafenfahrten gute Geschäfte machen. Doch der Landkreis Dahme-Spreewald hat aus regionalem Egoismus durchgesetzt, dass nur 500 Berliner Taxis die Erlaubnis bekommen, am BER Fahrgäste aufnehmen zu dürfen. Rund 90 Prozent der Berliner Taxis dürfen zwar Fahrgäste zum Flughafen bringen, aber sie müssen den weiten Weg nach Berlin leer zurückfahren. Aus klimapolitischen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen ist das ein Unding. Wir versuchen seit Jahren, das zu ändern, sehen im Landratsamt in Lübben allerdings keinerlei Bereitschaft. Wir kommen da einfach nicht weiter.

    Müssen Fahrgäste am BER immer noch lange warten, bis sie ein Taxi bekommen?

    Das beobachten wir nur noch selten. Inzwischen ist es erlaubt, bei großem Andrang auch Taxis ohne BER-Zulassung nach Schönefeld zu rufen. Außerdem ist es so, dass viele Fluggäste die Bahn benutzen. Von meinem Büro in Friedrichshain ist es nicht weit zum Bahnhof Ostkreuz, von dort braucht der Flughafenexpress nur 18 Minuten zum BER. Das würde ich nicht einmal mit dem Hubschrauber schaffen, geschweige denn per Taxi.

    Wie geht es dem Berliner Taxigewerbe?

    Sehr schlecht. Es gab mal mehr als 8400 Taxis in Berlin, inzwischen sind es nur noch knapp 5600. Dagegen ist die offizielle Zahl der Mietwagen mit Fahrer, die man auf den Plattformen Uber, Bolt und FreeNow per App buchen kann, in Berlin auf fast 4500 gestiegen. Die wahre Zahl dürfte deutlich darüber liegen. Ein Mitarbeiter des Landesamts für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten hat mir mitgeteilt, dass er von rund 1000 gefälschten Konzessionsurkunden ausgeht. Hinzu kommen Mietwagen mit Fahrer, die im Land Brandenburg gemeldet sind, aber vor allem in Berlin unterwegs sind. Unterm Strich dürften es mehr als 6000 Fahrzeuge sein, die uns Konkurrenz machen.

    Die meisten Fahrgäste freuen sich. Mit Uber und Co sind sie preiswerter unterwegs als im Taxi.

    Nach unseren Erkenntnissen liegen die Fahrpreise um bis zu 40 Prozent unter unseren Tarifen. Angesichts solcher Dumpingpreise kann man es den Fahrgästen nicht verdenken, dass sie auf diese Angebote fliegen. Jeder versucht, Geld zu sparen – auch wenn dies dazu führt, Steuerhinterziehung und Sozialbetrug zu fördern. Denn anders können die Mietwagenunternehmen nach unserer Einschätzung nicht überleben. Ein Zollbeamter hat mir erzählt, dass sich die Einnahmen ungefähr so aufgliedern: Ein Drittel kassieren die Fahrer legal von den Fahrgästen, ein Drittel kommt schwarz cash auf die Hand, ein Drittel vom Arbeitsamt. Während im Taxigewerbe jede Bewegung, jede Einnahme mithilfe von Fiskaltaxametern erfasst und nachvollzogen werden kann, haben zwei Drittel der Mietwagen aufgrund von Ausnahmegenehmigungen nicht einmal geeichte Wegstreckenzähler. Damit ist der Manipulation Tür und Tor geöffnet.

    Uber dementiert, dass Gesetze verletzt werden. Die Fahrzeuge werden effizienter eingesetzt, deshalb seien niedrigere Fahrpreise möglich. Die Fahrdienste seien keine Konkurrenz fürs Taxi.

    Wir haben 35 bis 40 Prozent des Geschäfts verloren. Monat für Monat muss das Berliner Taxigewerbe auf immer mehr Kunden verzichten. Nachts machen Taxis in Berlin kaum noch Umsatz. Jüngere Leute, die zu später Stunde zu Bars und Clubs unterwegs sind, buchen bei Uber und Co.

    Was fordern Sie?

    Es ist allerhöchste Zeit, dass Politik und Verwaltung in Berlin einschneidende Maßnahmen ergreifen. An erster Stelle muss eine Anti-Dumping-Regelung stehen. Berlin muss Mindestfahrpreise für den Mietwagenverkehr einführen, damit das Kaputt-Dumping nicht mehr stattfinden kann.

    Festzuhalten ist, dass Taxikunden auch in Zukunft auf berechenbare Preise setzen können.

    Wie soll das in Berlin konkret funktionieren?

    Für Fahrpreise bei Uber und Co muss es eine verbindliche Untergrenze geben. Sie sollte sich an der Festpreisregelung orientieren, die Anfang des kommenden Jahres in Berlin in Kraft treten soll.

    Festpreise im Taxiverkehr – was ist damit gemeint?

    Wenn Fahrgäste eine Taxifahrt bestellen, können sie sich im Voraus den Tarif nennen lassen, der ihnen dann garantiert wird. Wie in München, wo es seit September Festpreise gibt, wird sich der Fahrpreis innerhalb eines Tarifkorridors bewegen. Je nach Tages- und Nachtzeit, Staus und Verkehrslage kann der genannte Festpreis um bis zu zehn Prozent unter oder um bis zu 20 Prozent über dem regulären Taxistreckentarif liegen. Wir stellen uns vor, dass auch die Fahrpreise für Mietwagen mit Fahrern in diesem Korridor liegen.

    Besteht da nicht die Gefahr, dass bei bestellten Taxifahrten immer ein Aufschlag von 20 Prozent verlangt wird?

    Es wird nicht so sein, dass in jedem Fall für eine bestellte Fahrt das Maximale gefordert wird. Sicher, am Silvesterabend, wenn viele Menschen unterwegs sind, wird man an den oberen Rand gehen – auch um sicherzustellen, dass am letzten Abend des Jahres viele Taxifahrer arbeiten. Doch festzuhalten ist, dass Taxikunden auch in Zukunft auf berechenbare Preise setzen können. Wer ein Taxi auf der Straße anhält, wird wie heute exakt den Streckentarif zahlen. Der geplante Tarifkorridor wird ausschließlich für bestellte Fahrten gelten. Bei den Plattformen kommt es vor, dass die Preisschwankungen viel größer sind. In München, wo es Taxifestpreise gibt, sind die Nachfrage und das Feedback der Kunden sehr gut. Ein wichtiger Beschwerdegrund ist weggefallen.

    In Barcelona wurde ein Mindesttarif eingeführt. Das führte dazu, dass sich Uber zeitweise zurückzog. Doch inzwischen hat der Europäische Gerichtshof die Regelung in Barcelona wieder aufgehoben, weil sie nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei. Rechtsfragen führen in Berlin dazu, dass der Senat Ihre Forderung immer noch prüft.

    Es stimmt, die mittlere Ebene der Senatsverkehrsverwaltung unterstützt unseren Wunsch nicht. Hinzu kam, dass sich die bisherigen Senatorinnen, Regine Günther und Bettina Jarasch von den Grünen, für das Berliner Taxigewerbe leider nicht interessierten. Als wir ein Spitzentreffen verlangten, schob Frau Jarasch das Thema zu der damaligen Staatssekretärin ab. Der Wechsel im Senat hat das geändert. Kai Wegner von der CDU war bei uns im Taxizentrum in Friedrichshain, als er noch nicht Regierender Bürgermeister war. Er informiert sich aus erster Hand und schaltet nicht auf stumm. Wegner und die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner haben ein offenes Ohr für uns. Das zeigt die schnelle Bereitschaft, 2024 Taxifestpreise einzuführen. Aber auch der neue Senat muss mit dem Bedenkenträgertum in der Verwaltung umgehen. In Hamburg sind die Behörden mutiger. Da wird auch schon mal Mietwagenunternehmen die Konzession verweigert.

    In Österreich hat der Gesetzgeber einen radikalen Schritt vollzogen. Nicht, dass alle restlos zufrieden sind. Doch dort gibt es faire Bedingungen für alle.

    Die Plattformbetreiber entgegnen, dass eine Preisregulierung dem EU-Recht und dem Grundgesetz widerspricht. Mindesttarife für den Mietwagenverkehr seien rechtswidrig.

    Nein, dieser Auffassung bin ich nicht. Mietwagenunternehmen haben uns einen großen Teil des Geschäfts weggenommen. Dabei hat der Gesetzgeber eine klare Trennung vorgesehen, Mietwagen mit Fahrer sollen nicht wie das Taxi agieren. Sie sollen zum Beispiel in der Regel nach jeder Tour zum Betriebssitz zurückkehren. Das Mietwagengewerbe hat eine Sonderfunktion: Weite Fahrten, Limousinenservice – so hat es jahrzehntelang funktioniert. In Österreich hat der Gesetzgeber einen radikalen Schritt vollzogen: Er hat beide Gewerbe zusammengeführt. Dort sind nur noch Taxis unterwegs. Alle haben dieselben Bedingungen, der Tarifkorridor verhindert Dumpingpreise. Nicht, dass alle restlos zufrieden sind. Doch in Österreich gibt es faire Bedingungen für alle.

    Laut Senat sind in Berlin derzeit fast 4500 Mietwagen mit Fahrer unterwegs.

    Wäre es schlimm, wenn Berlin ohne Taxis auskommen müsste?

    Natürlich! Es wäre ein Verlust, wenn es in Berlin keine Taxis mehr geben würde. Zum Beispiel hat das Taxi eine Beförderungspflicht. Es muss auch fahren, wenn sich jemand nur kurz von der Apotheke oder dem Arzt nach Hause bringen lassen will. Unsere Konkurrenz darf solche Kurzfahrten ablehnen. In den USA gibt es bereits Städte ohne Taxis. Dort vermitteln Uber und Co nur noch lukrative längere Touren, oder sie fordern für Kurzfahrten hohe Fahrpreise. In Berlin sind Taxis verlässlich, sie fahren auch dann zu erschwinglichen Tarifen, wenn es regnet und stürmt.

    Stichwort Überalterung: Gibt es überhaupt noch junge Leute, die Taxifahrer sein wollen?

    Der Altersdurchschnitt in der Berliner Taxibranche ist relativ hoch. In Berlin sehen junge Leute meist keine Perspektive mehr im Taxigewerbe. In Hamburg, wo die Taxibranche verhältnismäßig gesund und die Zahl der Mietwagen gering ist, gibt es auch junge Taxifahrer und junge Taxiunternehmer.

    Wir sind damals wahnsinnige Risiken eingegangen. Anfangs machte das Unternehmen große Verluste, nur durch Glück haben wir überlebt.

    Ende 2022 wurden in Berlin die Taxitarife um durchschnittlich 20 Prozent erhöht. Hat sich das ausgewirkt?

    Die Fahrpreiserhöhung hat den Sog weg vom Taxi beschleunigt. Noch mehr Kunden sind zu den Mietwagen abgewandert.

    Sollte Berlin nicht erst einmal auf Fahrpreiserhöhungen verzichten?

    In dieser Frage ist das Taxigewerbe zerstritten. Einzelwagenunternehmer ohne Angestellte sehen Tarifanhebungen sehr skeptisch. Mehrwagenunternehmer, die ihren Fahrern den Mindestlohn zahlen müssen, sprechen sich meist dafür aus. Sie sind auf höhere Einnahmen angewiesen, um Kostensteigerungen tragen zu können. Auch wenn der eine oder andere Fahrgast wegbleibt.

    Ihnen gehört Taxi Berlin, die größte Taxizentrale in Berlin. Im Bundesverband Taxi und Mietwagen, kurz BVTM, sind Sie Vizepräsident. Nun wurden Sie zum Ersten Vorsitzenden von Taxi Deutschland Berlin, eines weiteren Branchenverbands, gewählt. Warum halsen Sie sich noch mehr Arbeit auf?

    Ich bin Jahrzehnte in der Branche tätig. Ich kann und will nicht dabei zusehen, wie das Taxi vor die Hunde geht. In Berlin ist die Not am größten. Hier haben wir die allergrößten Probleme.

    Nach dem Ende der DDR haben Sie in Ost-Berlin den Volkseigenen Betrieb (VEB) Taxi übernommen.

    Das war ein Riesenabenteuer. Ich war junger Unternehmer. In Berlin, Hauptstadt der DDR, gab es zuletzt 430 Taxis. Viel zu wenige für eine Stadt mit fast 1,3 Millionen Einwohnern. Kein Wunder, dass die Taxis im Osten immer ausgebucht waren. Der VEB Taxi hatte rund 1300 Beschäftigte. Davon waren 860 Taxifahrer und 130 Fahrlehrer in der zentralen Fahrschule in der Milastraße in Prenzlauer Berg. Hinzu kamen Heizer, Kantinenpersonal und fast 200 Werkstattbeschäftigte. Schließlich mussten die Ersatzteile zum Teil selber geschnitzt werden. Wir sind damals wahnsinnige Risiken eingegangen. Anfangs machte das Unternehmen große Verluste, nur durch Glück haben wir überlebt. Aus der Taxizentrale, die später in den Spreefunk überging, ist mein jetziges Unternehmen hervorgegangen.

    Der damalige Geschäftsführer des Autohauses begrüßte Markus Wolf als Genosse Minister, und dann duzte er ihn. Ich stand wie ein Statist da und fragte mich, was hier passiert. Über die Nachwendezeit in Berlin könnte ich ein Buch schreiben.

    Mir wurde erzählt, dass viele Taxifahrer mit der Stasi zu tun hatten.

    Davon wusste ich anfangs nichts. Ich war ein naiver Wessi, der von West-Berlin in den Osten gekommen war. Tatsächlich hatte der VEB Taxi mehr als 180 Fahrer, die vorher als hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit tätig gewesen waren. Im April 1989, Monate vor dem Mauerfall, wurde damit begonnen, ihnen Personenbeförderungsscheine auszustellen. So waren sie nach ihrem Ausscheiden versorgt. Bis ins Jahr 1990 hinein ging das so weiter. Der Leiter des Verkehrskombinats war stolz. Das sind gute Leute, die kennen sich aus, sagte er. Damals gab es einen Witz in Ost-Berlin: Wenn Sie in ein Taxi einsteigen, muss man nur den Namen sagen. Der Fahrer weiß schon, wohin es geht.

    Sie haben berichtet, dass das Thema auch dunkle Seiten hat. Was meinen Sie damit?

    Anfang der 1990er-Jahre gab es drei Taxifahrermorde. Sie wurden nie so richtig aufgeklärt. Die Opfer gehörten zu den Fahrern, die ihren Personenbeförderungsschein 1989 oder 1990 bekommen hatten. Vielleicht ging es um Verteilungskämpfe, um Waffen oder anderes Vermögen. Ich kann mich daran erinnern, dass die Polizei vor der Taxizentrale ein Taxi sicherstellte, der Kofferraum war voll mit Handgranaten. Einige Taxifahrer waren an Waffenschiebereien beteiligt. Schließlich waren Taxis eine gute Tarnung. Die Polizei hat nach meiner Einschätzung oft nicht richtig ermittelt. Da dachte ich mir: Du als Outsider kannst Dich nur noch naiv stellen. Das war echt nicht ohne.

    Markus Wolf, den langjährigen Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, haben Sie in der Wendezeit auch kennengelernt.

    Markus Wolf war Kunde in einem unserer Autohäuser, die wir gegründet haben, damit die Werkstattleute des VEB Taxi weiterhin eine Beschäftigung haben und unsere Taxis repariert werden. Er besaß einen gebrauchten 340er-Volvo und kam damit ganz bescheiden zu uns. Der damalige Geschäftsführer des Autohauses begrüßte Wolf als Genosse Minister, und dann duzte er ihn. Das war 1994. Ich stand wie ein Statist da und fragte mich, was hier passiert. Über die Nachwendezeit in Berlin könnte ich ein Buch schreiben.

    Aus der Vergangenheit in die Zukunft. Wie lange wird es in Berlin noch Taxis geben?

    Ich bin sehr pessimistisch, wenn ich mir die Lage in Berlin anschaue. Doch die Mobilitätswende wird auch dazu führen, dass Neues entsteht. Ich bin mir sicher, dass autonome Taxis, die ohne Fahrer auskommen, in 15 bis 20 Jahren die Regel sein werden. Erste Ansätze gibt es bereits in den USA. Wie heute werden diese Fahrdienste eine Beförderungspflicht haben, und es wird festgelegte Tarife geben. Aber Taxis in der jetztigen Form werden dann nicht mehr durch Berlin fahren.

    Branchenkenner und Unternehmer

    Hermann Waldner kennt die Taxibranche sehr gut. Als Vizepräsident des Bundesverbands Taxi und Mietwagen vertritt er ihre Interessen – und ruft bei Politikern und Verwaltungsleuten immer wieder in Erinnerung, wie wichtig das Taxi ist. Inzwischen wurde er auch zum Ersten Vorsitzenden von Taxi Deutschland Berlin gewählt.
    Als Student fing Hermann Waldner, der am Rand der Schwäbischen Alb aufgewachsen ist, in Berlin als Aushilfsfahrer an. Drei Jahre später wurde er Unternehmer. 1990 kaufte er den einstigen Volkseigenen Betrieb (VEB) Taxi in Ost-Berlin. Nach der Fusion mit der Genossenschaft Taxi Funk entstand die erste Gesamt-Berliner Taxizentrale. Taxi Berlin hat heute rund 150 Mitarbeiter und rund 5500 Taxis unter Vertrag.

    #Taxi #Berlin #Interview #Uber #Politik #Verbände #Geschichte

  • Mary Nolan – Blondes Gift in Berlin: Das turbulente Leben einer Schauspielerin
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/mary-nolan-blondes-gift-in-berlin-das-turbulente-leben-einer-schaus


    Ein Porträt Mary Nolans aus den 20er-Jahren

    13.10.2023 von Bettina Müller - Vor 75 Jahren starb die Schauspielerin Mary Nolan in Amerika. Als Imogene Robertson war sie zwei Jahre lang in Berlin erfolgreich.

    Es ist der 6. August 1927: Southampton in England. Das Passagierschiff „Mauretania“ verlässt den Hafen und erreicht sechs Tage später New York. Mit an Bord ist die 25-jährige Mary Nolan, deren richtiger Name Mary Imogene Robertson lautet.

    Schwer kriminell ist sie (noch) nicht, aber dennoch: Mary ist auf der Flucht. Hat Berlin überstürzt verlassen, nachdem sie in insgesamt 17 deutschen Stummfilmen zu sehen war – aber auch so einige unbezahlte Rechnungen, vor allem bei großen Modehäusern, angesammelt hatte. Sie galt als hoffnungsvolles Talent. Dass ihr eine große Karriere bevorstand, daran zweifelte eigentlich niemand.

    Filmausschnitte, die man bei YouTube ansehen kann, zeugen heute von ihrem darstellerischen Talent. Doch wie kam es dazu, dass aus Mary am Ende ein psychisches und physisches Wrack wurde und aus ihrem Leben ein Scherbenhaufen, der in einen viel zu frühen und einsamen Tod mündete?


    Mary Nolan in dem Film „West of Zanzibar“, 1928

    Entdeckt für die „Ziegfeld Follies“

    1902 als Tochter eines Zimmermanns im ländlichen Kentucky geboren, ist es dem reinen Zufall geschuldet, dass Mary Imogene Robertson als junge Frau für die „Ziegfeld Follies“ entdeckt wird, die erfolgreichste amerikanische Musical-Show, bei der die Damen schon mal die eine oder andere Hülle fallen lassen.

    Ihre Schwester Mabel ist bereits Schauspielerin, und Mary will es ihr gleichtun, aber vor allem in das ernstere Fach wechseln, nicht nur mit ihrem Äußeren gefallen, sondern auch mit ihrem darstellerischen Können.

    Zum Verhängnis wird ihr der wesentlich ältere Frank Tinney, ein Komiker, der ebenfalls über die Bühnen Amerikas tingelt. Dass Tinney verheiratet ist, hält Mary nicht davon ab, ein Verhältnis mit ihm einzugehen. Frank ist impulsiv und schlägt schon mal zu, wenn es zum Streit kommt.

    Es ist eine tumultuöse Beziehung, die geprägt ist von männlicher Gewalt, Selbstmordankündigungen Marys, Anzeigen bei der Polizei wegen Körperverletzung, intensiver Presseberichterstattung über das unmoralische „Ziegfeld Girl“. Konservative amerikanische Frauenvereine sind empört.

    Mary will nur noch weg, das Land verlassen, aber eigentlich auch wiederum nicht. Doch das ist ihre einzige Chance, von Frank loszukommen. Europa soll das Ziel sein, dort, wo niemand sie kennt, will sie Karriere beim Stummfilm machen. Einfach ihr altes Leben hinter sich lassen, und auch ihr großes Trauma, nur nach ihrem Aussehen bewertet zu werden.


    Mary Nolan 1923

    Dass ihre blonden Haare nicht echt sind, wissen nur die wenigsten, eigentlich hat sie rotes Haar. Doch Mary wird erneut schwach und reist Frank, der ein Engagement in England bekommen, aber auch wieder zu trinken angefangen hat, hinterher. In London angekommen ist es wie immer: Tumulte, Tränen und Streitereien in der Öffentlichkeit, Schlagzeilen in der Presse. Jetzt wird es selbst Herrn Ziegfeld zu viel mit seiner skandalumwitterten Tänzerin und er feuert Mary.

    Als Mary Nolan nach Berlin kommt, soll alles anders werden. Frank ist Geschichte, ein neues Kapitel soll geschrieben werden, möglichst mit Happy End. Und sie fasst tatsächlich Fuß, wird für ihren ersten in Deutschland gedrehten Film verpflichtet. Nolan verdrängt die umschwärmte, leicht bekleidete Tänzerin aus ihrem Gedächtnis und wird zu der damenhaften und eleganten Imogene Robertson.

    „Verborgene Gluten“ unter der Regie von Einar Brunn wird am 21. Januar 1925 in der Berliner Schauburg aufgeführt, der Film gilt jedoch als verschollen. Bei einem kurzen Abstecher nach München für ihren zweiten Film hat sie bereits eine der Hauptrollen.

    Welfolg in Europa

    Zurück in Berlin bemühen sich die verschiedenen Filmproduktionen, für die sie arbeiten wird – unter anderen die Nero Film GmbH und die Greenbaum Film –, ihr ein bestimmtes Image zu verleihen. 1926 ist Imogene daher „Das süße Mädel“ und: Sie spielt die Hauptrolle. Es wird das arbeitsreichste Jahr der Imogene Robertson in Berlin.

    Sie nimmt etwa unter der Regie von Reinhold Schünzel den „Fünf-Uhr-Tee in der Ackerstraße“ ein, bedient in „Wien, wie es weint und lacht“ rührselige Österreich-Klischees, spielt neben Heinrich George in „Das Panzergewölbe“, hat die Hauptrolle in „Die Königin des Weltbades“ mit Ida Wüst. Auch durch „Erinnerungen einer Nonne“, der am 24. Februar 1927 im Emelka-Palast in der Reichshauptstadt uraufgeführt wird, wird ihr ein unschuldiges und keusches Image angeheftet, das überhaupt nicht den Tatsachen entspricht.

    Die Kritiker sind begeistert, das „Tagblatt“ vergleicht sie sogar mit der gefeierten Elisabeth Bergner. Gefördert wird das durch die äußerst beliebten Starpostkarten, vor allem aus dem Ross-Verlag. Imogene gilt jedoch hinter den Kulissen zunehmend als schwierig, als launisch und unzuverlässig, zudem kann sie nicht mit Geld umgehen.

    1929 spielt Mary Nolan in „Desert Nights“.

    1929 spielt Mary Nolan in „Desert Nights“.Everett Collection/imago

    Bei mehreren großen Berliner Modehäusern hat sie Schulden, kauft exzessiv teure Kleider und „vergisst“ schon mal zu bezahlen. Möglicherweise nimmt sie zu dieser Zeit schon Drogen, die ihr später zum Verhängnis werden. Ihre Biografin Louise Carley Lewisson konnte in ihrem Buch „Mary Nolan. Ziegfeld Girl and Silent Movie Star“, das 2019 in den USA erschien, nur Vermutungen darüber anstellen, wann genau ihre Drogensucht begann. Sehr wahrscheinlich war das aber schon weit vor ihrer Berliner Zeit.

    Bei der Uraufführung des Films im Emelka-Palast glänzt Imogene durch Abwesenheit. Sie hat Deutschland bereits verlassen, und zwar „fluchtartig“, wie es diverse Tageszeitungen melden. Nun kommt auch zutage, dass bereits mehrere Strafverfahren gegen sie in der Schwebe sind; zumeist geht es dabei um nicht bezahlte Rechnungen, aber auch um Vertragsbruch.

    Im April 1926 habe sie einen Vertrag als Schauspielerin bei der Glashaus Film GmbH unterzeichnet, ihn aber nie erfüllt. Und wieder steht Imogene an der Reling eines Schiffes und träumt von einem anderen Leben. Sie kehrt in ihr Heimatland zurück, wo sie ein Jahr später von Universal Pictures unter Vertrag genommen wird und als Mary Nolan mehrere erfolgreiche Filme dreht.

    Doch die Sucht, vorzugsweise konsumiert sie Kokain, fordert im Laufe der nächsten Jahre dann endgültig ihren Tribut, als auch die Nebenwirkungen sich nicht mehr verbergen lassen. 1930 liegt sogar ein Haftbefehl gegen sie vor, weil sie gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen habe. Ihre Arme seien voller Einstiche, wird eine Krankenschwester vor Gericht aussagen.

    Zeughauskino: Manfred Krugs „Abgehauen“ läuft in der Filmreihe „Der Anfang vom Ende der DDR“

    Schwules Leben in der DDR: „Coming Out“ am Originaldrehort in Pankow
    Drogensucht und Schlagzeilen

    Ein Jahr später beherrscht Mary wieder die Schlagzeilen der amerikanischen Tageszeitungen, als sie einen reichen Börsenmakler heiratet. Die Ehe wird nur drei Jahre halten. Die 30er-Jahre werden dann Marys kompletter Niedergang. Sie ist bankrott, wird sogar verhaftet, weil sie die Löhne der acht Angestellten ihres kurzlebigen Mary Nolan Gown Shops nicht zahlen kann.

    Mindestens 14 Operationen liegen hinter der wegen eines Unterleibsleidens chronisch kranken Frau. 1932 dreht sie ihren letzten Film, „File No. 113“. Doch sie begehrt auf, will nicht aufgeben, träumt erneut von einem großen Comeback, kann vom Rampenlicht nicht lassen. Zurück nach Berlin kann sie nicht, dort hat sich längst der Tonfilm durchgesetzt, und sie spricht kein Deutsch.

    Sie kann nicht mehr in diese Zeit zurück, in der man sie dafür lobte, dass sie „ein deutsches Mädchen von idealer Holdseligkeit, vorbildlicher Charakterstärke“ gab, wie ein Kritiker 1926 über sie in „Die elf Schillschen Offiziere“ schrieb. Sie kann nicht zurück in die Zeit ihrer einstigen Popularität, als das Kinopublikum „Die Lieblinge Berlins“ in der Schauburg am Potsdamer Platz „täglich bewundern“ konnte, wie es in einer Zeitungswerbung über „Die Welt will betrogen sein“ hieß, wo sie als Imogene Robertson neben den heute ebenfalls vergessenen Filmstars Harry Liedtke und Mady Christians aufspielte.

    Im Jahr 1930 ist Mary Nolan in „Outside the Law“ zu sehen.

    Im Jahr 1930 ist Mary Nolan in „Outside the Law“ zu sehen.Everett Collection/imago

    So knüpft sie in ihrer Hilflosigkeit wieder an ihr altes Leben an und tingelt durch die Nachtclubs der amerikanischen Provinz. Aus der einst auch in Deutschland so viel gepriesenen „schönsten Frau der Welt“ ist eine grell geschminkte und verlebt aussehende Tänzerin geworden, die physisch und psychisch am Ende ist. Das junge, hoffnungsvolle Mädchen aus der Provinz gibt es nicht mehr.

    Dann wird es zunehmend still um sie, und der einst umschwärmte und gefeierte Star gerät in Vergessenheit. Am 31. Oktober 1948 nimmt sich Mary Imogene Robertson in ihrer Wohnung mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Sie wiegt 45 Kilogramm.

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    Deutschland #Berlin #USA #Film #Geschichte

  • Mutiger Modernisierer – wie Karl Bürkli die Schweiz veränderte
    https://www.srf.ch/audio/kontext/mutiger-modernisierer-wie-karl-buerkli-die-schweiz-veraenderte?id=12468759

    Karl Bürkli begeistert sich für die Theorien des französischen Frühsozialisten Charles Fourier: Der entwickelt eine Utopie, die «Luxus für alle» verspricht.
    Vorreiter für die direkte Demokratie: Karl Bürkli ist der erste, der Initiative und Referendum zusammenbringt.
    1851 gründet Bürkli in Zürich den Konsumverein, eine Art Genossenschaft. Das Ziel: Die Menschen sollen günstig an Brot und andere Produkte kommen, ohne Zwischenhandel.
    Abenteuer in Texas: Mitte der 1850er-Jahre wandert Bürkli in die USA aus. Zusammen mit Gleichgesinnten will er dort die utopische Gesellschaft in die Tat umsetzen, von der Charles Fourier geträumt hatte.
    Bürkli eröffnet einen neuen Blick auf das 19. Jahrhundert. Viele meinen, vor allem liberale Politiker wie Alfred Escher hätten die Schweiz in dieser Zeit geprägt. Doch auch linksbürgerliche Kräfte und Sozialistinnen hinterliessen ihre Spuren.

    #Schweiz #Geschichte #Suisse #histoire

  • Die Affäre Conradi von 1923 – Ein Freispruch mit Folgen
    https://www.srf.ch/audio/zeitblende/die-affaere-conradi-von-1923-ein-freispruch-mit-folgen?id=12474195

    Offensichtlich ist nicht das Tötungsdelikt im Vordergrund des Prozesses gestanden, sondern die Russische Revolution und das Leid, das viele Russlandschweizerinnen und Russlandschweizer in deren Verlauf erlitten haben. Die junge Sowjetunion ist empört über den Freispruch Conradis und bricht ihre Beziehungen zur Schweiz ab. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen wieder diplomatische Kontakte zwischen Bern und Moskau.
    Die «Zeitblende» thematisiert die Affäre-Conradi 100 Jahre nach dem aufsehenerregenden Mord. Wie kam es zu diesem Verbrechen und wie zum Freispruch? Warum schafft es die Schweiz erst mehr als 20 Jahre später, wieder einen Botschafter nach Moskau zu schicken? Diese und weitere Fragen erörtern die Historiker Thomas Bürgisser und Sacha Zala von der Forschungsgruppe Diplomatische Dokumente der Schweiz auf Grund von Quellen aus der Online-Datenbank Dodis.

    #Schweiz #UdSSR #Geschichte #Suisse #URSS #histoire

  • In Kreuzberg liegen jetzt die ersten Stolpersteine für Schwarze NS-Opfer
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/in-kreuzberg-wurden-die-ersten-stolpersteine-fuer-schwarze-ns-opfer

    Vor der Alten Jakobstraße 134 liegen nun diese fünf Stolpersteine für die Familie Boholle. Photo : Emmanuele Contini

    Plan / Openstreetmap
    https://www.openstreetmap.org/node/2468915167

    9.10.2023 von Elizabeth Rushton - Das Verfahren zur Verlegung neuer Stolpersteine ist für den Künstler Gunter Demnig inzwischen Routine: Die Messingsteine werden behutsam in das Straßenpflaster eingefügt, sodass ihre golden glänzenden Oberflächen und die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus vor den Häusern, in denen diese einst lebten, zum Vorschein kommen. Mehr als 1000 solcher Steine befinden sich auf den Bürgersteigen in Berlin-Kreuzberg, mehr als 96.000 gibt es in ganz Europa.

    Doch als Gunter Demnig sich am Sonntagmorgen mit seinem vertrauten Werkzeug vor dem Haus Alte Jakobstraße 134 über fünf neue Stolpersteine beugte, war diese Verlegung anders als alle anderen im Bezirk zuvor: Damit wurden die ersten Stolpersteine in Kreuzberg für Schwarze Opfer des NS-Regimes verlegt. In dem Haus wohnte Joseph Bohinge Boholle, der 1880 in Kamerun geboren wurde und im Rahmen der Berliner Kolonialausstellung nach Berlin kam, zusammen mit seiner Frau Stefanie. Joseph und Stefanie brachten drei Kinder zur Welt – Josefa Luise, Rudolf Bohinge und Paul Artur. Im Jahr 1939 wurde der Enkel Peter, der Sohn Josefas und des niederländischen Varieté-Artisten Cornelis van der Want, geboren.

    Nachdem 1943 ein Bombenangriff der Alliierten das Familienhaus in der Alten Jakobstraße zerstört hatte, zogen Josefa, Cornelis, Peter und Stefanie nach Bromberg (heute das polnische Bydgoszcz). Ende 1944 wurden allerdings die drei Erwachsenen verhaftet. Stefanie Boholle kam entweder im Gestapo-Gefängnis in Bromberg oder im KZ Stutthof ums Leben. Josefa, ihre Brüder Paul und Rudolf sowie ihr Mann Cornelis und ihr Sohn Peter überlebten den Nationalsozialismus – Josefa wurde aber während ihrer Gefangenschaft zwangssterilisiert und starb 1955 an den chronischen Erkrankungen infolge ihrer Zeit im Konzentrationslager.


    Frank Boholle (M.) verfolgt mit seiner Familie die Stolpersteinverlegung für ihre Vorfahren. Photo : Emmanuele Contini

    Vor Nachbarn, Aktivisten und Kommunalpolitikern wie Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne) sprach Frank Boholle, der Urenkel von Joseph und Stefanie, bei der Zeremonie am Sonntag von einer „großen Ehre“ für seine Familie. „Jetzt werden unsere nachfolgenden Generationen immer einen Ort haben, wo wir dieser Geschichte gedenken können“, sagte er. Er bedankte sich insbesondere bei dem Historiker Robbie Aitken, der nach der Verlegung eine Biografie der Familie Boholle vorlas, sowie bei Christian Kopp vom Verein Berlin Postkolonial, auf dessen Initiative die Verlegung erfolgt war.

    In ihrem Redebeitrag begrüßte Simone Dede Ayivi von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland den Schritt, der einen oft vergessenen Aspekt der NS-Geschichte näher beleuchtet. „Um die Verfolgungsgeschichte des Nationalsozialismus komplett zu erzählen, müssen alle betroffenen Gruppen miteinbezogen werden – und da sind wir noch lange nicht fertig“, sagte sie; es gebe noch große Wissenslücken zu füllen. Eine Erfahrung, die auch die Familie Boholle während der Vorbereitung auf die Stolpersteinverlegung gemacht hat. „Unsere Familiengeschichte bestand lange Zeit aus vielen Puzzlestücken“, sagte Frank Boholle. „Erst jetzt konnten wir sie zusammensetzen und die Lücken füllen.“


    https://de.m.wikipedia.org/wiki/N%C3%BCrnberger_Gesetze

    Siehe auch https://seenthis.net/messages/927660

    Berliner Kolonialausstellung 1896
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Berliner_Kolonialausstellung

    Kolonien des deutschen Kaiserreichs
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kolonien

    #Deutschland #Kamerun #Berlin #Kreuzberg #Alte-Jakobstraße #Geschichte #Kolonialismus #Rassismus #Nazis

  • Stolpersteine für Holocaust-Opfer: Berliner Jüdin kehrt an den Ort ihres Schreckens zurück
    https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/stolpersteine-fuer-holocaust-opfer-eine-berliner-juedin-kehrt-an-de

    21.9.2023 von Anne-Kattrin Palmer - Es ist Mittagszeit, als sich vergangene Woche ein Trüppchen von Menschen vor einem Wohnhaus in Berlin-Mitte trifft. Die Sonne scheint, der ehemalige Architekt Thomas Schriever kniet sich mit seinem Eimer nieder und beginnt, die Pflastersteine aus dem Boden zu holen. Er geht langsam vor, bedächtig. Seine Augen sind gerötet. Später wird er sagen, dass es ihm sehr nahegegangen ist.

    Neben ihm sitzt eine zierliche, gebrechliche Frau mit rotem Haar in einem Rollstuhl. Ginger Lane ist 84 Jahre alt. Die einstige Balletttänzerin hat ihre Augen hinter einer großen orangen Sonnenbrille versteckt, weil das Licht so brennt, aber auch die Erinnerungen. Ihre schmalen Hände zittern, während der Mann im Blaumann einen Spachtel in die Erde haut, die Steine rausholt, Wasser auf das Loch schüttet und weitergräbt. Verwandte von Ginger Lane, wie ihre ebenfalls rothaarige Tochter Beth, eine Filmemacherin, die aber auch mal als Schauspielerin in einem Francis-Ford-Coppola-Streifen mitspielte, richten die Handys auf den ehrenamtlichen Stolperstein-Verleger Schriever, der sich langsam vorarbeitet.

    Bildstrecke

    Neun Rosen für die Eltern und die sieben Kinder der Familie Weber.

    Neun Rosen für die Eltern und die sieben Kinder der Familie Weber.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Beth Lane (v.M.) vor den Stolpersteinen ihrer Familie an der Max-Beer-Straße.

    Beth Lane (v.M.) vor den Stolpersteinen ihrer Familie an der Max-Beer-Straße.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Beth Lane mit ihrer Mutter Ginger Lane, die als Kind in Berlin-Mitte lebte.

    Beth Lane mit ihrer Mutter Ginger Lane, die als Kind in Berlin-Mitte lebte.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Der Architekt Thomas Schriever verlegt die Steine.

    Der Architekt Thomas Schriever verlegt die Steine.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Ginger Lane war drei Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde.

    Ginger Lane war drei Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Musik begleitete die Zeremonie.

    Musik begleitete die Zeremonie.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    In Gedenken an die Familie Weber.

    In Gedenken an die Familie Weber.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Thomas Schriever arbeitet sich vor, nach 50 Minuten war es vollbracht.

    Thomas Schriever arbeitet sich vor, nach 50 Minuten war es vollbracht.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Mutter und Tochter: Ginger und Beth Lane leben in Amerika.

    Mutter und Tochter: Ginger und Beth Lane leben in Amerika.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Die neun Stolpersteine, bevor sie eingebettet wurden.

    Die neun Stolpersteine, bevor sie eingebettet wurden.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Ginger Lanes Redemanuskript.

    Ginger Lanes Redemanuskript.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Die Weber-Kinder gemeinsam mit weiteren jüdische Überlebenden vor ihrer Abfahrt nach Amerika, Ginger Lane steht vorne.

    Ginger Lane kämpft die nächsten 50 Minuten mit den Tränen, vor allem als Schriever einen Stolperstein nach dem nächsten in der Erde verschwinden lässt. Auf jedem einzelnen stehen die Namen ihrer jüdischen Familie – ihr Vater Alexander Weber, die Mutter Lina (Kosename von Pauline), der Bruder Alfons, die Schwestern Senta, Ruth, Gertrude, Renee, Judith und sie, Bela Weber. Bela heißt heute Ginger, sie spricht nur noch Englisch. „Deutsch habe ich nach meiner Flucht 1946 nicht mehr gesprochen“, erzählt sie später. In den USA habe man nach Hitler als Deutsche keinen guten Stand gehabt.

    Doch jetzt schaut sie andächtig auf den schmalen Gehweg vor dem Wohnhaus mit den 30 Klingelschildern in der Max-Beer-Straße 50, auf dem fortan die neun goldenen Steine an ihre Geschichte erinnern und auch mahnen sollen, dass die Schrecken der Vergangenheit nie wieder auferstehen dürfen. In Mitte liegen mehr als 2000 solcher Steine.

    1943 hieß die Straße noch Dragonerstraße, die Hausnummer war 48. Die gibt es nicht mehr und auch nicht das alte große, heruntergekommene Haus, in dem die Familie lebte, bis die Nazis sie verfolgten und die Mutter von Ginger Lane in Auschwitz ermordeten. Ein Musiker spielt jetzt „Sag mir, wo die Blumen sind“. Ginger Lane laufen Tränen über die Wangen.

    Die 84-Jährige ist 1939 in Berlin geboren, damals lebte die Familie noch in der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) im „Scheunenviertel“, das, bevor Hitler an die Macht kam, bevorzugter Ankunftspunkt für Tausende von Juden war, die aus den östlichen Gebieten Europas vor Gewalt und Pogromen flohen.

    Auch die Familie Weber war 1930 in das Arme-Leute-Quartier gezogen. Alexander Weber kam aus dem katholischen Paderborn. Er war der Spross einer gut situierten Familie, die eine Regenschirm-Manufaktur besaß. Als er geschäftlich nach Ungarn reiste, lernte er Pauline Banda kennen, Tochter eines Kantors der jüdischen Gemeinde in Rákospalota, und verliebte sich. Am 12. September 1926 heiratete er die hübsche Frau mit den braunen Haaren in Rákospalota und nahm sie mit nach Deutschland. Vorher war Weber sogar zum jüdischen Glauben konvertiert.

    Doch die jüdische Ehefrau war nicht willkommen im erzkatholischen Paderborn. „Sie haben ihn enterbt“, sagte eine der Töchter, Ruth, mal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Alexander Weber brach vollständig mit seiner Familie, verließ Paderborn, zog nach Dortmund und dann, Anfang 1930, nach Berlin, zunächst in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Grenadierstraße. Danach in die Dragonerstraße. Das Paar bekam sieben Kinder. Alfons war der Älteste, die Jüngste war Bela, heute Ginger.

    Ginger Lane war dreieinhalb Jahre alt, als die Gestapo vor der Tür stand. Es hat sich bis heute bei ihr eingebrannt, obwohl sie noch so jung war. Sie weiß genau, dass die Männer in Ledermänteln gegen die Tür hämmerten und ihre Mutter öffnete. Ginger selbst versteckte sich. Die Tür schlug wieder zu, ihre Mama war weg. Sie schaute aus dem Fenster, sah, wie die Männer ihre hilflose Mutter in ein schwarzes Auto schubsten. Sie ahnte damals nicht, dass sie Mutter nicht mehr wiedersehen würde. 1943 wurde Pauline Weber in Auschwitz ermordet. Jetzt, genau 80 Jahre danach, sitzt ihre Tochter vor dem Haus, in dem alles passierte. Sie konnte lange Jahre nicht hierhin zurückkommen.
    1943 in Berlin: Die Mutter, der Vater und der Bruder werden verhaftet

    Damals überschlugen sich die Ereignisse: Die Mutter war weg, noch in derselben Nacht wurde auch Alexander Weber verhaftet, am nächsten Morgen brachte man die sieben Kinder in das Krankenhaus der jüdischen Gemeinde in der Exerzierstraße. „Wir waren ganz allein, als sie uns holten“, erzählt Ginger an jenem Mittag in Berlin. Alfons sei noch mal abgehauen, er wollte irgendwelche Papiere in Sicherheit bringen, aber als er zurückkam, hätten sie ihn eingesperrt. Doch er sowie der Vater kamen auf wundersame Weise wieder frei. Alexander Weber rettete wohl, dass er seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärte. Scheiden lassen aber wollte er sich nicht. Warum ihr Bruder Alfons gehen durfte? Ginger Lane weiß es bis heute nicht.

    Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis man die Kinder abholen und in den Tod schicken würde. Das wusste Alexander Weber in jenen Jahren, da seine Kinder nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjuden“ galten. Hinzu kamen die Bombenangriffe, die Kinder saßen nur noch im Keller. Sie waren verschüttet. Er muss verzweifelt gewesen sein, erzählt eine Verwandte, die aus Paderborn für die Zeremonie angereist ist, an jenem Mittag vor dem Haus in der Max-Beer-Straße.

    It is an honor to share that 9 Stolpersteine bricks were laid outside of 48 Dragonerstrasse to honor the Weber family. Stolpersteine is the brilliant work of Gunter Demnig and stretches across Europe to honor and remember the victims and the persecuted of the Holocaust. pic.twitter.com/66AArWGJDF
    — beth lane (@bethlanefilm) September 21, 2023

    Doch dann sei etwas Unfassbares geschehen: Der Obst- und Gemüsehändler Arthur Schmidt aus Worin, einem Dorf etwa 60 Kilometer östlich von Berlin, bot dem Vater an, die Kinder bei sich zu verstecken. Schmidt hatte in dem Haus in der Dragonerstraße 48, in dem die Webers wohnten, einen Raum gemietet. Dort lagerte er seine Obstkisten und die Ware, die er in den Markthallen nicht verkauft hatte. Die beiden Männer kannten und mochten sich. „Oh ja!“, soll Alexander Weber damals erleichtert gerufen haben.

    So kam es, dass Schmidt die Geschwister eines Nachts abholte, und fortan wohnten sie auf seinem Grundstück „Grüner Wald“ an der B1. Fast zwei Jahre lang lebten die Kinder bei der Familie in der Waschküche, wurden von ihr versorgt. In Worin haben einige die Identität der Kinder gekannt, die sich auf dem umzäunten Hof frei bewegten oder manchmal in den Ort kamen und um etwas zu essen baten, erinnert sich Marlis Schüler, deren Mann, der damalige Dorfchronist, die längst vergessene Geschichte der Kinder 1985 aus den Archiven kramte.
    In Worin erinnert eine Messingtafel an die sieben Kinder

    Dabei kam vieles ans Tageslicht, auch dass der Bürgermeister Rudi Fehrmann eingeweiht gewesen war und die Kinder trotzdem nicht verriet, obwohl er Mitglied der NSDAP war. Noch im Mai 1945, unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee, wurde Fehrmann allerdings verhaftet und in das sowjetische Speziallager Ketschendorf bei Fürstenwalde gebracht. Dort starb er 1947. In der DDR war das Thema ein Tabu – die Geschichte der sowjetischen Speziallager wurde erst nach der Wende 1990 aufgearbeitet. Marlis Schüler sagt, dass bis 1989 auch kaum jemand über die Kriegszeiten mehr geredet hätte: „Das Ganze kam erst ins Rollen, nachdem mein Mann weiter in den Archiven geforscht hatte.“

    Wir waren so einsam und hatten immer Angst.

    Ginger Lane über die Zeit in Worin

    Die Rentnerin Marlis Schüler aus Worin ist auch an jenem Mittag dabei, als die Stolpersteine versenkt werden. Ihr Sohn hat sie nach Berlin gefahren, sie lebt inzwischen in Schleswig-Holstein, ihr Mann Herbert ist gestorben. „Er hätte das heute gerne miterlebt, aber auch Alfons, der älteste Bruder der Geschwister. Er ist 2016 gestorben“, erzählt sie. Sie und ihr Mann sind von Alfons Weber angeschrieben worden, es entwickelte sich eine Brieffreundschaft, ein gegenseitiger Austausch. Man traf sich, um sich zu erinnern.

    Nach Alfons folgten die Geschwister. Ginger Lane, die partout nicht nach Mitte wollte, besuchte dafür die Familie Schüler in Worin und dachte dort daran, wie sie im Krieg auf dem Land Kartoffeln geerntet hatten und vor allem daran, „dass wir so einsam waren und immer Angst hatten“.

    Weltkrieg und Nationalsozialismus: Diese Museen erklären, was in Berlin geschah

    Zwei Stolpersteine und ein schweres Versäumnis

    Auch Tochter Beth, die in Los Angeles lebt, kam immer wieder in das brandenburgische Dorf und drehte dort unter anderem den Dokumentarfilm „UnBroken“, der an die Geschichte ihrer Familie erinnern soll. Aber auch an die Helfer, die die Kinder retteten. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrte das Ehepaar Paula und Arthur Schmidt aus Brandenburg 2018 als „Gerechte unter den Nationen“ posthum. 2019 wurde in Worin an dem Grundstück eine Messingtafel angebracht.

    Es sind zwei Stunden vergangen, die Stolpersteine liegen nun an ihrem Platz. Seit 1992 gibt es diese Denkmale, entwickelt von dem Künstler Gunter Denning. Ihm ging es um individuelles Gedenken und die Mahnung: Die Nationalsozialisten wollten die verfolgten Menschen zu Nummern machen und ihre Identität auslöschen. Mit den Stolpersteinen wollte er diesen Prozess rückgängig machen und ihre Namen wieder in die Straßen und Städte zurückholen.

    It’s official! My documentary film UNBROKEN was selected for the Heartland International Film Festival! Tickets to watch in person are now available at https://t.co/shpYBnqLOl #HIFF32 @HeartlandFilm pic.twitter.com/BO0RVxwsu0
    — beth lane (@bethlanefilm) September 15, 2023

    Inzwischen finden sich die Steine in über 1800 Kommunen – insgesamt mehr als 100.000 Gedenksteine sind es in Deutschland und 25 weiteren europäischen Ländern, unter anderem in Österreich, Belgien, Frankreich, Polen, den Niederlanden und der Ukraine. In Berlin (Stand: August 2023) wurden bereits 10.287 Stolpersteine verlegt. Diese verteilen sich auf 76 von 97 Berliner Ortsteilen.

    Ginger Lane schaut auf ein beschriebenes Blatt Papier, auf dem sie sich notiert hat, was sie sagen möchte. Sie redet über ihren Vater, der Elektriker war und sich bestimmt mit ihrem Rollstuhl ausgekannt hätte, der oft den Geist aufgibt. Sie lächelt, als sie das sagt. Ihren Vater sah sie wieder, er folgte den Kindern nach Amerika. Dort starb er in den 1980er-Jahren.

    Dann spricht sie von ihrer Mutter, die in Berlin im Untergrund gegen die Nazis gearbeitet und immer anderen geholfen habe, auch wenn sie sich der Gefahr bewusst gewesen sei. Ginger Lane muss schlucken, als sie über ihren Bruder Alfons redet, an den sie täglich denke und der ihr fehle. „Er hat uns beschützt, als wir nach Amerika fuhren und auch später.“

    Alfons starb 2016, ebenso wie drei ihrer Schwestern. Heute leben nur noch Gertrude, Judith und Ginger.

    Auch ihre Geschichte wird noch einmal vorgelesen, diesmal von ihrer Tochter Beth, die gerade sechs Jahre alt war, als sie in den USA ankam und von der Künstlerin Rosalynde und dem Neurochirurgen Joshua Speigel adoptiert wurde. Beth Lane liest vor: „Ginger wuchs in einem künstlerischen Haushalt auf; sie wurde Ballerina, heiratete schließlich und bekam drei Kinder. Sie ist stolze Großmutter von sieben Enkelkindern und hat zahlreiche Auszeichnungen für ihren Beitrag zur Behindertenhilfe sowie für Tanz und Choreografie erhalten. Im Frühjahr 2022 wurde Gingers Bild zu Ehren des Women’s History Month an Bushaltestellen und Plakatwänden in Chicago angebracht!“

    Die Mutter lächelt ihre Tochter liebevoll an, sie drückt Beths Hand. Ginger Lane sagt: „Es gibt so viel Böses auf der Welt, das immer wieder von so viel Gutem überwältigt wird. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass das Gute immer die Oberhand über das Böse behält.“ Sie schaut auf das Haus, in dem sie als Kind gelebt hat. Obwohl es nicht das alte ist, hat sie bisher den Blick gemieden. Jetzt wirkt es für einen Moment, als habe sie Frieden mit diesem Ort geschlossen.

    #Brandenburg #Worin #Berlin #Mitte #Scheunenviertel #Almstadtstraße #Grenadierstraße #Max-Beer-Straße #Dragonerstraße
    #Holocaust #Shoa #Geschichte

  • The Making of an SS Killer, The Life of Colonel Alfred Filbert, 1905 - 1990

    https://www.openstreetmap.org/way/120860377#map=19/52.42332/13.18798

    page 78

    In the second half of October, upon his return to Berlin from his stint in the east, Filbert was accused of having misappropriated RSHA funds. The affair impacted not only on Filbert but also on other senior members of Office VI, namely Jost – who had been fired by Heydrich as early as the beginning of September2 – and SS-Obersturmbannführer Friedrich Vollheim, head of Group VI C. The charges were used to remove the three of them from office.

    The specific charges against Filbert were twofold: first, it was claimed that Filbert had illegally retained 60,000 Reich marks in foreign currency in his office safe for his own personal use; second, he was accused of taking out ‘a dubious loan’ (einen zweifelhaften Kredit) for the purchase of a house. The interest rate agreed on for the mortgage was supposedly half a per cent lower than the rate generally applied.

    The house in question was a villa at 34 Waltharistraße in the Berlin suburb of Wannsee, which Filbert had moved into in 1941 (and would then ultimately purchase in 1943). Proceedings were initiated against him and he was questioned by an SS court in Berlin.

    He later disputed his guilt with the words: ‘Was it thinkable that I, a jurist and a soldier, would do such a thing?’ Filbert was only one of many Nazi criminals who admitted in their post- war testimony to having committed murder (albeit often on a scale much smaller than had actually been the case) but disputed having ever enriched themselves materially or financially. Franz Stangl, the former commandant of Treblinka extermination camp, endeavoured after the war to make it clear that no theft had taken place under his command.

    https://www.iwm.at/transit-online/brothers-the-ss-mass-murderer-and-the-concentration-camp-inmate

    During his four-month stint in the east, he proved to be one of the most radical executors of the genocide of Soviet Jewry. His commando was the very first to commence with the systematic murder of women and children at the end of July 1941. By the time he returned to Berlin on 20 October 1941 his commando had killed more than 16,000 Jews in Lithuania and Belarus.

    #Berlin #Nilolassee #Waltharistraße #Geschichte #Nazis #SS #Einsatzgruppen #Shoa

  • Kolumne Berliner Trüffel, Folge 34: Auf den Spuren einer Plastik ohne Namen
    https://www.tagesspiegel.de/kultur/kolumne-berliner-truffel-folge-34-auf-den-spuren-einer-plastik-ohne-nam

    12.8.2023 von Michael Bienert - Wer schwingt da den Taktstock? Beim Sonntagsradeln zwischen Kiefern und Villen öffnet sich plötzlich ein elliptischer Platz mit gepflegtem Rasen, in der Mitte die Bronzefigur eines Dirigenten. Ihr Sockel trägt keinen Namen, eingemeißelt sind vier Worte: Kunst. Kultur. Wissenschaft. Wirtschaft.

    Drei Alleen münden auf den Platz, vielleicht geben die Straßenschilder einen Hinweis? Der Oberhaardter Weg, steht da, hieß früher Joseph-Joachim Straße, nach dem berühmten Geigenvirtuosen, Komponisten und Gründungsdirektor der Berliner Musikhochschule. Wegen dessen jüdischer Herkunft wurde die Straße 1939 von den Nazis umbenannt.

    Es führen allerdings auch eine #Griegstraße und eine #Nikischstraße auf den Platz mit dem Musiker aus Bronze. Der norwegische Komponist oder der ungarische Maestro könnten auch gemeint sein. Na gut, das Netz wird es schon wissen. Denkste. Googlemaps verzeichnet an der Koordinate ein Grieg-Denkmal. Aber die weitere Recherche führt ins Nichts.

    Auf der Rückseite der Skulptur ist eine Signatur eingeritzt, schwer zu entziffern. Der Versuch mit dem Namen Andrej Irzykowski führt endlich zu einem Suchmaschinentreffer. Ein Bildhauer aus Lünen, dessen Website seit 2008 nicht aktualisiert worden ist. Aber er ruft zurück. Ein Kunstfreund, der aus Lünen in den #Grunewald gezogen sei, habe die Skulptur 2014 in Auftrag gegeben. Nein, sie stelle keine der drei genannten Personen dar, es sei dabei um etwas Universelleres gegangen, ums Dirigieren.

    Der gesenkte Taktstock ist verbogen, jemand hat versucht, ihn abzubrechen. Und ist gescheitert an dem Stahlstab, den der Bildhauer listig drin versteckt hat. Sonst ist die Figur hohl. Jedes Körperteil gibt beim Beklopfen einen anderen Glockenton. Die linke Hand der Figur scheint ein unsichtbares Orchester zu zügeln. Eingefroren in dem Moment, wo Musik in Stille übergeht.

    #Oberhaardter_Weg #Joseph-Joachim-Straße #Nazis #Geschichte #Straßenumbenennung

  • Berliner Trüffel, Folge 36: Enten und Jungschwäne in Charlottenburg
    https://www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-truffel-folge-36-enten-und-jungschwane-in-charlottenburg-10368

    27.8.2023 - Michael Bienert - Die Enten fühlen sich auf dem Brunnenrand vor dem #Renaissance-Theater pudelwohl: Ein Exemplar döst vor sich hin, den Schnabel ins Gefieder gesteckt, eine andere putzt sich. Der laute Autoverkehr um den Ernst-Reuter-Platz stört die sechs Artgenossinnen nicht. Ihre glatt polierten, messingglänzenden Köpfchen beweisen, dass die Bronzevögel gerne gestreichelt werden. Große Kunst zum Anfassen von August Gaul, der um 1900 die Millionenstadt Berlin mit seinen Tierskulpturen bevölkerte, mit anmutigen Kreaturen, weitab von Bedeutungshuberei und wilhelminischem Bombast.

    Auf einem niedrigen Sockel ruht ein Brunnenbecken aus Muschelkalk, in der Mitte erhebt sich ein steinerner Pilz, über den Wasser in das Becken rinnt. Und an zwei Seiten des Beckenrands hocken je drei Entlein zusammen. Ein liebliches, ein märchenhaftes Arrangement.
    Geschenkt vom Stadtverordneten

    Es gibt Anwohner, die es verstimmt, dass der Brunnen derart harmlos plätschert, ohne Hinweis auf seinen Stifter. Der Straßenschmuck von 1908 war ein Geschenk des Industriellen, Berliner Stadtverordneten und ehrenamtlichen Stadtrates Max Cassirer an die Stadt Charlottenburg. Wie sein Neffe, der Kunsthändler Paul Cassirer, förderte er August Gaul. Max Cassirer besaß eine Villa an der #Kaiserallee, der heutigen #Bundesallee. In seinem Garten ließ er einen kleineren Brunnen errichten, ebenfalls mit sechs Vögeln von Gaul auf dem Rand. Damit die Proportionen passten, entschied man sich für Jungschwäne statt ausgewachsener Enten.

    Dieser zweite Brunnen steht seit 1962 am #Kurfürstendamm, Ecke #Leibnizstraße. Auch hier könnte an das Schicksal des jüdischen Stadtrates erinnert werden: Die Ehrenbürgerwürde von Charlottenburg wurde Cassirer 1933 aberkannt, seine Fabriken wurden arisiert. Die Villa an der Kaiserallee musste er verkaufen, um eine Zwangsabgabe an den NS-Staat aufzubringen. Ende 1938 rettete er sich der 82-jährige Mäzen ins Ausland, danach wurde er ausgebürgert, um sein Restvermögen und die Kunstsammlung zu beschlagnahmen.

    Im Foyer des Rathauses Charlottenburg erinnert ein etwas ramponierter Aufsteller an Max Cassirer und seine Ausplünderung. Der Weg zwischen dem Rathaus und den beiden Brunnen ist aber doch recht lang, und so bleibt es eine Herausforderung, das Schöne und Grausame zusammenzudenken.

    #Berlin #Charlottenburg #Wilmersdorf #Otto-Suhr-Allee #Hardenbegstraße #Knesebeckstraße #Geschichte #Nazis #Judenverfolgung #Kunst #Mäzenatentum

  • Ostberlinfahrten

    Von 1961 bis 1989 durften Westberliner Taxis nicht spontan in den Ostsektor, die Hauptstadt der DDR fahren, es sei denn ihr Fahrer hatte einen bundesrepublikanischen Ausweis oder einen ausländischen Pass und der Fahrgast konnte wie er nur den Checkpoint Charlie im Zuge der Friedrichstraße für den Grenzübertritt nutzen. Es konnten also Fahrer mit ausländischem Pass und Bundesbürger ebensolche Fahrgäste zwischen dem sowjetischen und amerikanischen Sektor der Stadt befördern. In der Regel wurden diese Fahrten eher von Fahrern mit ausländischen Pass und Meldeadresse in Westberlin ausgeführt, weil für Deutsche die vorgeschriebene Anmeldung einer Wohnadresse in den Westsektoren der Stadt mit dem Austausch des grauen Personalausweis der Bundesrepublik Deuschland gegen den grünen Personalausweis für Westberliner verbunden war, mit dem ein Grenzübertritt am Checkpoint Charlie nicht möglich war. Da eine Meldeadresse in Berlin Vorschrift für Taxifahrer war, gab es praktisch keine Deutschen als Fahrer für „Ostberlinfahrten“.

    Westberliner, die vor 1989 mit dem Taxi „in den Osten“ fahren wollten, mussten einen Westberliner Fahrer mit grünem Personalausweis finden, der bereit war, ein paar Tage vor der Ostfahrt wie sein Fahrgast persönlich in einer der Passierscheinstellen ein eben solches Dokument für den Besuch in der Hauptstadt der DDR zu beantragen und diesen Passierschein vor Grenzübertritt eben dort abzuholen. Der Checkpoint Charlie war ihnen verschlossen, jedoch konnten sie die Übergänge Heinrich-Heine-Straße, Invalidenstraße, Chausseestraße und Bornholmer Straße sowie Drelinden für Fahrten nach Potsdam nutzen.

    Für Ein- und Ausreise musste der selbe Grenzübergang benutzt werden, denn nur dort war die Einreise dokumentiert und konnte bei der Ausreise aus dem Register gestrichen werden.
    Der Grund dafür war, dass es vor 1989 keine preiswerte Netzwerktechnik gab, die den Abgleich von Einreisen und Ausreisen an verschiedenen Grenzübergängen erlaubt hätte. Außerdem fiel diese Technologie unter ein westliches Embargo, das ihren Export in den „Ostblock“ verhinderte.

    Das bedeutete für jeden Besuch „im Osten“ zwei Besuche in der Passierscheinstelle, zwei Mal warten, was vor Feiertagen manchmal einen halben Tag lang dauerte. Wenn die Warteschlange vor Weihnachten bis vor die Tür der Passierscheinstelle reichte, mussten auch Wind, Regen oder Schnee erduldet werden.

    Routinierte Schlaumeier besaßen einen grünen „Mehrfachberechtigungsschein“, der es einmal beantragt und ausgestellt ermöglichte, bei einem einzigen Besuch in der Passierscheinstelle bis zu acht weitere Besuche, auch an einem einzigen Tag, „freistempeln“ zu lassen.

    Wer also einen Westberliner Fahrgast zur Staatsoper unter den Linden bringen und ihn dort auch wieder abholen wollte, brauchte dadür entweder zwei Einträge im Mehrfachberechtigungsschein und musste bei jedem Grenzübertritt den „Zwangsumtausch“ leisten, oder er musste die Zeit der Aufführung im leeren abendlichen Ostberlin verbringen, wo er keine Fahrgäste aufnehmen durfte. Außerdem hätten ihn Ostberliner Fahrgäste ihn nur mit „Ostmark“ bezahlen können. Von diesen für ihn wertlosen Scheinchen und „Aluchips“, hatte der Fahrer aber schon mindestens 25 zuviel, weil jeder Grenzübertritt mit „Zwangsumtausch“ von 25 D-Mark gegen Mark der DDR zum Kurs eines zu eins verbunden war. Dieses Geld durfte nicht aus der DDR ausgeführt werden, sondern musste bei der Ausreise gegen Quittung an der Grenzübergangsstelle zur Aufbewahrung abgegeben werden und konnte bei einer erneuten Einreise in die DDR wieder zusätzlich zum erneuten Zwangsumtausch ausgezahlt werden.

    Nach 18 Uhr gab es praktisch keine Möglichkeit, das Geld auszugeben, denn alle Geschäfte waren geschlossen, und nichtalkoholische Getränke, Essen und Zigaretten waren in den meisten Gaststätten so billig, dass der Taxidahrer nach einer Zeche für 25 Mark im Übermaß vollgefressen und nicht mehr fahrfähig gewesen wäre.

    Für Fahrgäste bedeutete das einen Taxipreis in Höhe eines Vielfachen des Preis für seine Opernkarten. Die waren so subventioniert, dass sich jeder Hilfsarbeiter problemlos mehrere Opernabende im Monat leisten konnte. Der Westberliner Fahrer musste seinen Kunden mindestens 300 Mark für die Fahrt und 25 Mark zusätzlich für den für ihn wertlosen Zwamgsumtausch berechnen, wenn er nicht Miese machen wollte. Die Eintrittskarten für die Oper gab es für Westverhältnisse fast geschenkt, aber das Taxi zur Oper war aufgrund der Zeitumstände sehr teuer

    So ist es kein Wunder, dass „Ostfahrten“ selten und das Geschäft weniger spezialisierter Betriebe waren. Die Preise in D-Mark der 1980ger Jahre entsprechen ungefähr dem Wert des gleichen Betrags in Euro im Jahr 2020 ff.

    Die straffen Kontrollen lösten sich im November 1989 schnell wie in Rauch auf. Nach der Grenzöffnung am 8.11.1989 wurde noch kontrolliert und die Regeln für die Benutzung der Grenzübergänge durchgesetzt. Von Zwangsumtausch war im Dezember bereits keine Rede mehr, und im Januar begannen wir, die Kontrollversuche der DDR Beamten an der innerstädtischen Grenze zu ignorieren. Wer zu kontrollieren versuchte wurde ignoriert oder von zwei Tonnen Mercedes zur Seite gedrängt. Der Staat DDR und seine Organe hatten innerlich abgedankt und bald verschwanden zuerst die Beamten und dann die Betonpoller, die zum Verlangsamen der Fahrt an den Kontrollstellen zwangen.

    Übertrieben strenge Grenzkontrollen hält kein Staat, keine Gesellschaft lange durch. Die mächtige Berliner Mauer hat sich in kürzerer Zeit als der Dauer eines Menschenlebens erledigt. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR hatten gelernt, mutig auf ihrer Reisefreiheit zu bestehen. Am Ende wollte wollte niemand mehr die Mauer haben, und so verschwand sie fast wie von selbst.

    Wenn es gut läuft, geht es in Zukunft allen Grenzregimes wie ihr.

    #Berlin #Taxi #Geschichte #Grenze #Mauer #Checkpoint_Charlie #Zwangsumtausch #Heinrich-Heine-Straße, #Invalidenstraße, #Chausseestraße #Bornholmer_Straße #Besatzung
    #Unter_den_Linden
    #Kreuzberg
    #Mitte
    #Wedding
    #Prenzlauer_Berg
    #Tiegarten

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Berechtigungsschein_zum_Empfang_eines_Visums_der_DDR

  • Berliner Trüffel (33): Bürgermeisterbüro mit dunkler Vergangenheit
    https://www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-truffel-33-burgermeisterburo-mit-dunkler-vergangenheit-1026731

    5 8.2023 - Birgit Rieger - Wer ins Bürgeramt muss, versucht meist seinen Aufenthalt dort so kurz und effizient wie möglich zu gestalten. Im Rathaus Tiergarten aber lohnt sich für Geschichtsinteressierte ein genauerer Blick, jenseits von Zettelwirtschaft und Verwaltung. Der dreiflügelige Bau am Mathilde-Jacob-Platz in Moabit ist denkmalgeschützt und ziemlich imposant.

    Die Architektur trägt die Merkmale nationalsozialistische Bauten. Natursteinverkleidete Fassadenelemente, das hohe Portal, der mittige Turm. Es war der erste Neubau eines Rathauses in Berlin während der NS-Zeit, errichtet zwischen 1935 und 1937.

    Erklärt wird die Geschichte des Hauses unter anderem im zweiten Stock. Dort liegt das „Historische Bürgermeisterzimmer“ samt Vorzimmer, in weiten Teilen ist es noch original erhalten. Die Wände sind mit dunklem Nussbaumholz verkleidet, ein mächtiger Leuchter krönt die Decke, die bodentiefen Fenster gehen auf die Turmstraße hinaus.

    Einfach weiternutzen wollte man den Raum, der während der NS-Zeit von verschiedenen Moabiter Bezirksbürgermeistern genutzt wurde, nicht. Von hier aus wurde die Deportation zehntausender Berliner Jüdinnen und Juden mitorganisiert, die unter anderem am Güterbahnhof Moabit in Züge gen Osten gebracht wurden. Hitler grüßte vom „Führerbalkon“, der ein Stockwerk tiefer zur Turmstraße hinauszeigt.

    Der Schreibtisch in dem Raum ist nicht mehr erhalten. Stattdessen steht dort nun ein gelber Tisch mit eingelassenem Bildschirm. Eine Multimediapräsentation informiert über das Rathaus als NS-Täterort, die Architektur des Gebäudes und den Umgang mit nationalsozialistischen Bauten heute.

    Eine weitere Ausstellung im Vorzimmer zeigt Gedichte von Moabiter Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die während der NS-Zeit verfolgt wurden, Kurt Tucholsky ist der berühmteste, die in Tiergarten aufgewachsene Lyrikerin Nelly Sachs ist auch dabei.

    #Berlin #Tiergarten #Turmstraße #Geschichte #Archizektur #Nazis

  • Das ehemalige Pressecafé am Alexanderplatz öffnet wieder
    https://www.berliner-zeitung.de/news/das-ehemalige-pressecafe-am-alexanderplatz-oeffnet-2024-wieder-li.3

    Das Pressecafe am Alexanderplatz war in Ostberlin bekannt als Treffpunkt von afrikanischen Studenten und Diplomaten. Es wurden Geschäfte im kleinen Ost-West-Handel gemacht. Dank Reisefreiheit für Ausländer und unkontrollierten Diplomatenkoffern war vieles möglich. Die Kollegen vom VEB Horch und Guck immer mit dabei. Auch die Damen der Hauptstadt mit Hang zu exotischen Bekanntschaften zog es ins Pressecafe. Es war ein Ort der öffentlichen Privatsphäre.

    10.7.2023 von Xenia Balzereit - Das Pressecafé im Haus des Berliner Verlags öffnet im Frühjahr 2024 wieder. Der Berliner Gastronom Alexander Freund will den Pavillon mit zwei gastronomischen Angeboten betreiben. In die untere Etage soll den Plänen zufolge wieder ein Pressecafé einziehen – eines, das sich in seiner Ästhetik an das alte DDR-Pressecafé und das inzwischen wieder freigelegte Fries von Willi Neubert anlehnt. In der oberen Etage greift künftig der BEAST Berlin Steakclub die Steakhaus-Vergangenheit des Gebäudes auf.

    Im Steakclub bietet Freund dann klassische Gerichte der US-Steakhouse-Kultur: Steak Cuts, Spare Ribs und Burger. Es soll aber auch vegane Gerichte und viel Obst und Gemüse geben. Für das Café im Erdgeschoss plant Alexander Freund eine Lunch- und Frühstückskarte sowie Snacks zum Mitnehmen. Im Café sollen drinnen 100 und draußen 200 Menschen Platz finden. Im Steakclub essen die Gäste an langen Tafeln, dort soll es etwa 310 Sitzplätze geben.

    Das Pressecafé als Tor zur Welt

    Alexander Freund betreibt bereits eine Reihe von Restaurants in Berlin, etwa das Fischer & Lustig im Nikolaiviertel oder das Jäger & Lustig an der Grünberger Straße in Friedrichshain. Dort traf sich gerne die DDR-Politprominenz, um Wild zu essen.

    Mit dem Pressecafé hat Freund wieder einen geschichtsträchtigen Ort zu seinem Projekt gemacht. Der Pavillon, der mit seiner Stahlkonstruktion auf den Gehweg ragt, war zu DDR-Zeiten für Journalisten ein mondäner Treffpunkt, ein Tor zur Welt, ein ästhetisch ansprechendes Forum. Dort lagen Zeitungen aus diversen Ländern aus, die in der DDR sonst kaum zu haben waren. Beim Lesen saß man auf Stühlen, die denen des westlichen Designers Ernst Moeckl nachempfunden waren und bei den Konferenzen in der oberen Etage blickte man auf den Alexanderplatz, das Zentrum Ost-Berlins.

    Das Steakhouse Escados zog nach der Wende in das Gebäude ein. Dessen Schriftzug überdeckte jahrzehntelang das Neubert-Fries. Seit 2021 ist das Kunstwerk wieder sichtbar.

    #Berlin #Mitte #Alexanderplatz #Karl-Liebknecht-Straße #Memhardstraße #DDR #Geschichte #Gastronomie #Architektur #Kunst

  • Gericht: Berliner Mohrenstraße darf umbenannt werden
    https://www.berliner-zeitung.de/news/gericht-urteilt-ueber-umbenennung-der-berliner-mohrenstrasse-li.366

    Und wieder kriegen wir eine ins unmerkbare umbenannte Straße verpasst. Aus der Mohrenstraße hätte eine Amostraße werden können. Nun sollen die Mohren doch zum
    Anton-Wilhelm-Amo-Straßen-Sprachmonster erhoben werden. So be it , heute merkt sich sowieso niemand mehr Namen von Stadtorten. Geokoordinaten herrschen hinter PR-Verballhornungen fürs gemeine Volk. Heil Amo, Ami go home, oder so.

    6.7.2023 von Anja Reich - Am Ende der Verhandlung über die Mohrenstraße, kurz vor der Urteilsverkündung, sieht es für einen Moment so aus, als würde das Bezirksamt doch einlenken, auf die Gegner der Umbenennung zugehen. Gerade hatten sie ihre Argumente vorgetragen, sich beschwert, nie von den Politikern in ihrem Bezirk angehört worden zu sein, und ihnen vorgeworfen, immer nur die Umbenennungsaktivisten zu unterstützen. Sogar ein Büro werde ihnen bezahlt, ein Büro, das immer leer steht!

    Ein starker Vorwurf, findet der Richter. „Der Bezirk sponsort die Umbenennungsräume?“, fragt er den juristischen Vertreter vom Bezirksamt Mitte. „Können Sie dazu etwas sagen?“

    Nein, sagt der Justiziar. Mehr sagt er nicht. Aber dann wendet er sich doch noch an die Männer auf der anderen Seite des Ganges, die Kläger, und sagt in versöhnlichem Ton, er werde „den Wunsch nach mehr Dialog mitnehmen“ und dafür sorgen, „dass das, was ich heute gehört habe, an der richtigen Stelle ankommt“.

    Er hat kaum zu Ende gesprochen, da ruft einer der Kläger: „Heißt das, das Verfahren wird ausgesetzt, bis die Bezirksverordnetenversammlung die Sache neu bewertet?“ Nein, sagt der Justiziar, so sei das nicht gemeint gewesen.

    „Dann ist das also für uns gelaufen“, stellt der Kläger fest, empört, resigniert. Und fügt hinzu: Egal was man sage, es helfe ja doch nichts.

    So ist sie, die Stimmung im Berliner Verwaltungsgericht, als hier am Donnerstag die 1. Kammer unter Vorsitz von Richter Wilfried Peters darüber verhandelt, ob die Mohrenstraße in Berlin-Mitte umbenannt werden darf oder nicht. Und damit einen drei Jahre währenden Streit um Kolonialismus, Rassismus und Willkür von Bezirkspolitikern beendet.
    Mohrenstraße: Sechs Anwohner hatten geklagt

    Im Jahr 2020 hatte die Bezirksverordnetenversammlung die Umbenennung auf Antrag von Grünen und SPD beschlossen. In der Begründung hieß es: „Nach heutigem Demokratieverständnis ist der bestehende rassistische Kern des Namens belastend und schadet dem internationalen Ansehen Berlins.“

    Sechs Anwohner hatten dagegen geklagt, darunter der Historiker Götz Aly, der Bücher über den Nationalsozialismus und über den deutschen Kolonialismus geschrieben hat. Er finde durchaus, dass an den deutschen Kolonialismus in kritischer Weise erinnert werden solle, erklärte er. Aber der Beschluss zur Umbenennung der Mohrenstraße sei „überstürzt und wenig begründet“. Seinen Widerspruch habe das Bezirksamt nicht inhaltlich geprüft, sondern ein standardisiertes Ablehnungsschreiben verschickt.

    Es ist heiß und stickig im Gerichtssaal in Moabit, vorne links sitzen die Kläger, sechs Männer mit schütteren Haaren und dunklen Anzügen. Rechts hat das Bezirksamt Mitte Platz genommen, zwei Männer aus der Rechtsabteilung. Vorne das Gericht, vier Männer, eine Frau. Unter den Zuschauern sieht die Geschlechterverteilung ähnlich aus. Und schnell ist klar: Die Männer sind gegen die Umbenennung, die Frauen dafür. Götz Aly formuliert es so: „Die eine Gruppe ist zivilgesellschaftlich, die andere sind alte weiße Männer.“

    Aly kennt sich aus mit Straßennamen und Berliner Stadtgeschichte. Seine Klagebegründung klingt wie ein historischer Vortrag. Umbenennungen, sagt er, hätten immer etwas Totalitäres. Er erinnert an den Nationalsozialismus, die DDR, die Nachwendezeit, sagt, dass es ihm schon einmal gelungen sei, einen Namen zu retten, den von Nikolai Bersarin, des ersten sowjetischen Stadtkommandanten von Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele Namen, vor allem in Mitte, erinnerten an eine andere Zeit: Zimmerstraße, Hugenottenstraße, Hirtenstraße, Jüdenstraße. Und nein, die Taubenstraße habe nichts mit Vögeln zu tun, sondern mit Menschen, die nichts hören. Und keiner käme auf die Idee, den Gendarmenmarkt in „Platz der Bundespolizei“ umzubenennen, nur weil das zeitgemäßer sei.
    Historiker Götz Aly warnt vor Spaltung der Gesellschaft

    Der Richter hört lächelnd zu, er scheint es zu genießen, den Vortrag, Alys leise ironische Art, die Argumente seiner Gegner auseinanderzunehmen. Aktivisten, die sich in Vereinen versammelt haben, die Decolonize Berlin, Afrika-Rat Berlin Brandenburg e.V. oder Amo Kollektiv Berlin heißen und sogar Alys türkische Familiengeschichte recherchiert haben.

    Leider falsch, wie der Historiker dem Gericht nun mitteilt. Als Beweis hat er seinen Stammbaum mitgebracht, hält ihn hoch, erklärt, dass Mohren im 17. Jahrhundert, als die Straße ihren Namen bekam, sogar mehr Ansehen genossen und zu Hofe besser bezahlt worden wären als Türken. Natürlich habe es Sklaverei gegeben, natürlich bestreite er nicht, wie schlimm das gewesen sei, aber wenn das Bezirksamt inhaltlich argumentiere, tue er das auch.

    Er warnt davor, sich auf „das geänderte Demokratieverständnis einer Gesellschaft“ zu berufen, weil sich das sehr schnell ändern könne. Und vor der Spaltung der Gesellschaft warnt er auch, gerade komme da etwas ins Rutschen, sagt der Historiker. Spätestens jetzt ist klar: Es geht im Gericht um die Frage, ob eine Straße in Berlin-Mitte umbenannt werden darf, aber es könnte auch um die Wärmepumpe oder die LNG-Terminals auf Rügen gehen. Darum, dass Menschen sich ausgeschlossen fühlen, wenn sie das Gefühl haben, Beschlüsse werden über ihre Köpfe hinweg gefällt.

    Am Ende seines Vortrags sagt Götz Aly, ob die Umbenennung justiziabel sei, sei ihm egal. Wichtig sei, dass sie nach demokratischen Prinzipien erfolge. Da ahnt er wohl bereits, dass seine Klage kaum Chancen haben wird. Der Vorsitzende Richter hatte „aus Fairness gegenüber den Beteiligten“ gleich zu Beginn der Verhandlung auf das „eingeschränkte Handeln des Gerichts“ hingewiesen. Der Grund: eine „einheitliche Rechtsprechung nicht nur in Berlin“, das „weite Ermessen der Kommune, in unserem Fall des Bezirksamts Mitte“. Es klang, als entschuldige er sich bei Götz Aly und seinen Mitstreitern dafür, dass er ihnen nicht weiterhelfen kann.

    Sätze wie aus einem Kafka-Roman

    Immer wieder spricht der Richter vom „staatsbürgerlichen Dialog“, betont, wie wichtig der sei. „Für uns ist aber nur maßgeblich, ob hier eine willkürliche Benennung erfolgt ist, außerhalb jeder sachlichen Erwägung und völlig unvertretbar.“ Bei allem Für und Wider „dränge sich das nicht auf“. Es sei nicht abwegig zu sagen, die sprachliche Wahrnehmung habe sich geändert. „Es gibt eben keine Sarotti-Mohren und Negerküsse mehr.“

    Der Vertreter des Bezirksamts erklärt, die Prinzipien der repräsentativen Demokratie seien alle eingehalten worden, gibt später aber zu, sich mit dem Widerspruch der Anwohner gar nicht auseinandergesetzt zu haben. Wegen Personalmangels. Er sagt: „Das in den Verwaltungsvorgang aufzunehmen, kann die Verwaltung nicht leisten, weil die Verwaltung zu knapp besetzt ist, deshalb haben wir uns in der Verwaltung auf das Wesentliche konzentriert.“ Sätze, die auch in einem Kafka-Roman stehen könnten.

    Ein Kläger liest eine E-Mail des Bezirksamts vor als Beweis für die „willkürliche Behandlung“ der Anwohner und fragt, wo das denn alles hinführen solle. „Eines Tages ist die Friedrichstraße weg, weil Friedrich nicht unser demokratisch gewählter Fürst war.“ Ein anderer weist darauf hin, dass er Mitglied der deutsch-arabischen Gesellschaft sei, und behauptet: „Keiner von denen, die den Namen ändern wollen, wohnen auch dort.“ Zustimmendes Gemurmel. Nur hinten in der letzten Reihe sagt eine Frau leise: „Doch.“

    Die Frau heißt Regina Römhold und erzählt in der Pause, dass sie am Institut für Europäische Ethnologie arbeitet, das sich in der Mohrenstraße Nummer 40 befindet. Eine Adresse, an der sie nicht länger ihre Studenten und internationalen Gäste empfangen möchte. Deshalb hat sie eine Initiative zur Umbenennung der Mohrenstraße gegründet und öffentliche Stadtrundgänge organisiert. Sie arbeite viel mit Südafrikanern zusammen, sagt sie. „Die wundern sich schon, wenn sie nach Deutschland kommen und diesen Namen aus der Sklaverei hier vorfinden.“ Götz Aly habe ein gutes Buch über koloniale Raubkunst geschrieben. Sein Festhalten am alten Berliner Geschichtsbild verstehe sie nicht.

    Aber Aly scheint selbst nicht mehr so richtig von seiner Klage überzeugt zu sein und kündigt an, bei Ablehnung nicht unbedingt in Berufung gehen zu wollen. „Ich möchte mich nicht in eine Sache verbeißen, mich jahrelang damit beschäftigen. Das kann ich meinen Mitklägern nicht versprechen.“

    Dann wird das Urteil gesprochen, die Klage – wie erwartet – abgelehnt, eine Berufung nicht zugelassen. Götz Aly sagt, das sei „in Ordnung so“. Er akzeptiere die Entscheidung des Gerichts, das Verfahren sei fair abgelaufen, der Richter habe seine Sache gut gemacht. Die Anhörung, die es nie gab im Bezirk, hier habe sie endlich stattgefunden. Er werde sich nun bald neue Visitenkarten drucken lassen. Auf denen steht: Anton-Wilhelm-Amo-Straße, der Name des ersten Gelehrten afrikanischer Herkunft an einer preußischen Universität.

    #Berlin #Mitte #Mohrenstraße #Anton-Wilhelm-Amo-Straße #Politik #Geschichte #Kultur #Rassismus #Straßenumbenennung

  • Das Übel der autogerechten Stadt: Wie Willy Brandt West-Berlin veränderte
    https://www.berliner-zeitung.de/open-source/das-uebel-der-autogerechten-stadt-wie-willy-brandt-west-berlin-vera

    12.6.2023 von Ansgar Hocke - Es war die weltpolitische Realität des Kalten Krieges, die ein städtebauliches Gesamtkonzept für Berlin nach 1945 verhinderte. Und so wurde Ende der 50er-Jahre im Westteil der Stadt gebuddelt, gebaut und eingeweiht. Es herrschte der bauliche „Selbstbehauptungswille“ in der schon fast geteilten und noch kriegszerstörten Stadt.

    Der legendäre Bürgermeister Ernst Reuter war Vorbild und Lehrmeister für Willy Brandt. Im Alter von 44 Jahren wählten ihn die Abgeordneten 1957 zum Regierenden Bürgermeister. Er war zur kommunalpolitischen Nüchternheit gezwungen, um die Existenz der Stadt zu sichern und eine städtebauliche Entwicklung in Gang zu setzen. Die Probleme von damals klingen heute vertraut: Unterbringung der Flüchtlinge, Preisanstieg bei den Lebensmitteln und fehlende Wohnungen sowie Schulen.

    Noch prägten 1957 die vier Sektoren das Leben in der Stadt; wobei der Ostsektor von den Sowjets abgeriegelt war und kontrolliert wurde. An den Bundestagswahlen durften sich die „Insulaner“ nicht beteiligen. Die Blockade West-Berlins lag zehn Jahre zurück, aber der Druck durch die Sowjetunion, durch den damaligen Regierungschef Nikita Chruschtschow, ließ nicht nach. Wie und woraus sollte dieses Berlin seine Zukunft schöpfen, die Industrie und die Wirtschaft voranbringen? Die Lage war beklemmend. Die Zentralen von Siemens und AEG zogen weg, viele wichtige Spitzenverbände, Industriebetriebe, vor allem die Metallbranche, übersiedelten nach Westdeutschland. Keine Frage: West-Berlin hing am Bonner Tropf; jeder Haushalt ein Kampf und Krampf.

    Die politische Spaltung der Stadt war bereits seit dem 30. November 1948 vollzogen. Die SED putschte die legale Gesamtberliner Regierung weg; diese floh ins Rathaus Schöneberg. Der Ostteil der Stadt schwang sich auf, Hauptstadt der DDR zu werden, und West-Berlin blieb nichts anderes übrig, als sich einzurichten. Bonn war inzwischen Regierungssitz geworden und Ost-Berlin verfolgte den eigenen sozialistischen Weg.

    West-Berlin baute Wohnungen, Kongressräume, Büros, aber eben auch Schneisen für die Autos. Denn 1957 hatte sich die Zahl der zugelassenen Motorfahrzeuge gegenüber 1951 bereits verdreifacht. Die Großzügigkeit von Straßen wie der Bundesallee, der Heerstraße, des Kurfürstendamms, der Joachimsthaler Straße und des Hohenzollerndamms ließ die Lust am Autofahren stetig anwachsen. Schnellstraßen und Autobahnen wurden gebaut, Straßen verbreitert. Immer mehr Bürohäuser entstanden nach und nach, zuerst rund um den Bahnhof Zoo und die Ruine der Gedächtniskirche. Die neue Randbebauung des Zoologischen Gartens stellte eine einheitliche Anlage von 400 Metern Länge dar.
    Durch den Marschallplan finanzierte Bauten

    Gebäude der Wirtschaft, Versicherungen, Geschäfte und Kaufhäuser entstanden am Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße. Dies waren in erster Linie lang gezogene Hochhäuser, durch den Marshallplan der USA finanzierte Bauten im „amerikanischen Stil“ wie das Hilton-Hotel, das Bikinihaus, das Telefunkenhaus sowie das Ernst-Reuter-und das Corbusier-Haus, das im Rahmen der internationalen Bauausstellung von 1957 entstanden war. Sich mit internationalem Flair im Städtebau und in der Architektur zu umgeben, war Absicht und Wunsch der brandtschen Regierung.

    Es war ein Glücksfall für den Senatschef Brandt, dass der Beginn seiner Amtszeit mit der Eröffnung der Internationalen Bauausstellung im Hansaviertel zusammenfiel, die noch unter seinem Vorgänger Otto Suhr akquiriert worden war. Die Bauten im Hansaviertel signalisierten einen Neubeginn: Berlin öffnete sich der Welt, allen Existenznöten zum Trotz.

    Bekannte internationale Architekten der Nachkriegsmoderne wie Walter Gropius, Oscar Niemeyer, Max Taut und andere lockten die Besucher an: viel Grün, viel Luft und Sonne, und alles nicht weit vom Tiergarten entfernt. Das Hansaviertel wurde ein „riesiges Ausstellungsstück“, denn die 54 Architekten aus verschiedenen Nationen der „freien Welt“ hatten sich bei den Baukosten die Zügel anlegen lassen. Sie durften nicht viel teurer bauen, als es im Rahmen des damaligen sozialen Wohnungsbaus üblich war.

    Nicht vergessen werden darf, dass bis zum Mauerbau 60.000 bis 70.000 Menschen jeden Tag aus Ost-Berlin in den Westteil kamen, um hier zu arbeiten. Der Wegfall der Arbeitskräfte konnte durch die Zuwanderung westdeutscher Arbeiter und Arbeiterinnen einigermaßen ausgeglichen werden.

    Trotz des Leitbildes einer autogerechten Stadt, das auch der SPD-Politiker Brandt teilte, war der U-Bahn-Bau eine der wichtigsten Aufgaben unter den Verkehrsprojekten in seiner Ära. Linien wurden verlängert, nach Steglitz, Mariendorf und Tegel, teilweise auch als indirekte Folge des Mauerbaus, nachdem die Ost-Berliner S-Bahn von den West-Berlinern boykottiert wurde. Der Regierende Bürgermeister hob des Öfteren die grüne Kelle, um feierlich eine Strecke freizugeben. Er nannte die U-Bahn ein Kind dieses Jahrhunderts: „jung, flink und zuverlässig“.

    Schon um 1960 herum hatte sich bei Willy Brandt die Überzeugung durchgesetzt, dass man Verkehrsprobleme nicht nur durch Straßenbau würde lösen können, sondern durch die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Brandt war ein Politiker, der es dank seiner rhetorischen Fähigkeiten verstand, selbst der Einweihung des Teilstücks der U-Bahn-Linie vom Kurt-Schuhmacher-Platz nach Tegel (1958) eine historische Bedeutung zu geben. So sprach er auf dem U-Bahnhof Kurt-Schuhmacher-Platz die Sätze: „In der Hoffnung, dass der Tag nun doch näher rückt, trotz all der Schwierigkeiten, die uns in der Welt umgeben, an dem hier in Berlin wieder zusammengefügt sein wird, was zusammengehört. Der Tag, wo dann wieder ein einheitliches Verkehrsnetz Realität sein wird. In dieser Hoffnung an diesen Tag gebe ich jetzt das Startsignal für den ersten planmäßigen Zug.“ Drei Jahrzehnte später, 1989, einen Tag nach dem Fall der Mauer, sollte Willy Brandt fast die gleichen Worte –„es wächst zusammen, was zusammengehört“ – wieder benutzen.
    Kultureller Glanz oder soziale Infrastruktur?

    Mit dem Bau der Mauer 1961 endete der Zuzug von Flüchtlingen aus Ostdeutschland. Die Einwohnerzahl West-Berlins sank, aber der große Exodus blieb aus. Die Ausrichtung der Stadtpolitik auf eine wiedervereinigte Hauptstadt Berlin, die Idee eines Zentrums um das Reichstagsgebäude, um die alte Mitte wieder aufleben zu lassen, diese Ausrichtung konnte nicht länger beibehalten werden. Lediglich das sogenannte City-Band vom Architekten Hans Scharoun deutete den Weg gen Mitte an: Nahe des Potsdamer Platzes schuf der Architekt die Philharmonie, später die Staatsbibliothek, um diese Repräsentativbauten wenigstens möglichst dicht in die Nähe der historischen Berliner Mitte zu rücken. Zum quirligen, lebendigen Zentrum West-Berlins entwickelte sich dieses Kulturforum aber nicht.

    Willy Brandt wollte kulturellen Glanz in seinem Berlin, und die Abgeordneten subventionierten seine Kulturpolitik für all die Maler, Literaten, Bildhauer und Schauspieler, die er nach Berlin einlud. Er setzte in seiner Amtszeit Maßstäbe, engagierte sich für den Konzertsaal der Hochschule der Künste ebenso wie für die Fertigstellung der Philharmonie und ließ es sich natürlich nicht nehmen, die neue Deutsche Oper an der Bismarckstraße zu eröffnen. Willy Brandt forcierte den Ausbau der Universitäten und der Institute, wie zum Beispiel des Max-Planck-Instituts oder des Instituts für Entwicklungspolitik. Er engagierte sich für die Berliner Festwochen, die Gründung der Film- und Fernsehakademie, für die Filmfestspiele, für den Berliner Kunstpreis.

    Doch stand die Politik im Rathaus Schöneberg in diesen Jahren stets vor dem Dilemma: Geld für Kulturbauten oder für die soziale Infrastruktur. So verzögerten zum Beispiel die Landesparlamentarier im Hauptausschuss die Mittelfreigabe für den Bau der Galerie des 20. Jahrhunderts im Tiergarten, die Neue Nationalgalerie, denn die Bezirke und Abgeordneten forderten vorrangig moderne Krankenhäuser, Universitätskliniken, eine Großmarkthalle und den Ausbau des öffentlich geförderten Wohnungsbaus. Erst sechs Jahre nach der Auftragserteilung konnte daher der Museumsbau des Architekten Ludwig Mies van der Rohe eröffnet werden.

    Willy Brandt wusste wohl, dass man für eine Stadt einen industriellen Unterbau braucht, deswegen gab es in der Berlinförderung massive Mittel für Umsatzsteuererstattung und Investitionshilfen, um Industrieansiedlungen nach Berlin zu holen, die übrigens zweifelhafter Natur waren und heftige Auseinandersetzungen zur Folge hatten; zum Beispiel die Zigarettenindustrie, die von Bremen nach Berlin verlagert wurde.

    Die Zentralen der Industrie, der Wirtschaft und des Handels boykottierten weiterhin West-Berlin. Inzwischen hatte der Wiederaufbau ungeheure Fortschritte gemacht und die enorme Bautätigkeit setzte sich fort. In der Gropiusstadt, am Falkenhagener Feld, im Märkischen Viertel entstanden nach und nach Tausende von Wohnungen. Die Befürworter dieser Siedlungen lobten den dortigen hohen Wohnkomfort, die Kritiker sahen in ihnen eintönige Betonwüsten.

    Neben den massiven Neubauten am Rande der Stadt begann ein Sanierungsprogramm in den Altbauquartieren von Kreuzberg bis Wedding. Es kam zum Kahlschlag. Rund um das Kottbusser Tor sollte zum Beispiel alles dem Erdboden gleichgemacht werden. Der Abriss der vielen Gründerzeithäuser sollte dem Ideal der autogerechten Stadt dienen. Bis in die 70er-Jahre hinein galt zum Beispiel die Devise: Straßenbahnen haben auf der Straße nichts zu suchen, denn sie stören den Autoverkehr.

    Straßenzüge wie zum Beispiel die Kreuzberger Oranienstraße sollten zu einer breiten Achse ausgebaut werden. Die Planer der Senatsbauverwaltung schienen offenbar begeistert, Autobahnen quer durch die Stadt zu bauen, die sogenannten innerstädtischen Tangenten plus Innenstadtring. Der Generalverkehrsplan, der Flächennutzungsplan mit seinen sogenannten Nord-, Süd-, West-, Ost-Tangenten war ausgerichtet auf die Zeit nach einer Wiedervereinigung.

    Mit dem Beginn der behutsamen Stadterneuerung 1982 endete diese Abriss- und Baupolitik. West-Berlin ist zwar nicht zum Manhattan geworden, aber das Leitbild beziehungsweise das Übel der autogerechten Stadt mit störungsfreiem Straßenverkehr prägt und beeinflusst nach wie vor massiv die Urbanität, die Lebensqualität und die Architektur Berlins.

    Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde.

    #Berlin #Geschichte #Stadtentwicklung #Verkehr

  • Und Meyer sieht mich freundlich an – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Und_Meyer_sieht_mich_freundlich_an

    In den Roaring Twenties und danach gin es in Berliner Kneipen hart zu. Humor war alles, was sich weit jenseits heutiger Wokeness bewegte. Lieder über legendäre „Schlachten“ der Unter- und Nachtwelt wurden von Bier und Schnapsbrüdern fröhlich mitgegrölt. Vergessen Sie #Berlin_Alexanderplatz. Die Realiät war härter als der gute Doktor Döblin es seinen Lesern zumuten wollte. Ab jetzt folgen schwere Straftaten. Was tut man nicht, um sich zu amüsieren.

    Los geht unser Zug durch die Nacht mit Suff und Ehebruch.

    https://www.youtube.com/watch?v=ZqdsVDkCG3s


    https://de.wikipedia.org/wiki/Und_Meyer_sieht_mich_freundlich_an

    Und Meyer sieht mich freundlich an ist ein Couplet aus dem Jahre 1901. Von Kurt Tucholsky wurde es als das „klassische“ Berliner Couplet bezeichnet.

    Die Musik stammt von dem Wiener Operetten-Komponisten Leo Fall, der damals Hauskomponist des Berliner Kabaretts „Die bösen Buben“ war.

    Dessen Gründer, Rudolf Bernauer, schrieb den Text, in dem ein junger Mann in der Kneipe mit der hübschen und offenbar vernachlässigten Ehefrau eines reichen Industriellen anbändelt, der daneben sitzt und ihn dabei – anscheinend nichts ahnend – freundlich ansieht. Dies bleibt auch bei den sich hieraus ergebenden Schäferstündchen so – nur hängt der gehörnte Ehemann Meyer dabei als gemaltes Porträt an der Wand.

    https://www.youtube.com/watch?v=cPNVb96EqMM

    Die Erstinterpretation stammt von dem Wiener Komiker und Operettensänger Joseph Giampietro. Eine frühe Plattenaufnahme wurde von Robert Koppel gesungen. Aus den 1970er Jahren stammen Versionen von Entertainer Peter Frankenfeld (1975) und Schlagersänger Graham Bonney.

    Schon damals scherte man sich einen feuchten Kehricht um alles, was heute noch verboten ist.
    Mord und Totschlag. Ein hoch auf alle Messerstecher !

    Licht aus, Messer raus! (Otto Kermbach, Alexander Fleßburg; 1931)
    https://www.youtube.com/watch?v=g-YUaszw4gs

    (#393) GEORGE GROSZ | Licht aus, Messer raus! (Light Out, Knife Out!)
    https://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2019/impressionist-modern-art-day-n10148/lot.393.html

    Licht aus, Messer raus! (Light Out, Knife Out!)Signed Grosz and dated(lower left); signed Grosz, Watercolor and pen and ink on paper, Executed in 1920.

    Wir schalten jetzt mal nen Gang runter und begnügen uns mit Beleidigung und übler Nachrede.

    Pump mir dein Gesicht, ich will die Großmama erschrecken Odeon Tanz Orchester mit Robert Koppel
    https://www.youtube.com/watch?v=ltWmoDCh-j4

    Und zu guter Letzt eine Prise aggressiver Rassismusfür alle in fröhlicher Schnapslaune. Sowas ging damals runter wie Butter. Wir wissen, was draus wurde und was davor war.

    Der Neger hat sein Kind gebissen / Odeon-Tanz-Orchester mit Refraingesang
    https://www.youtube.com/watch?v=8YwaUQktiBI

    Der Deutsche Schhellackplatten- und Grammophonforum e.V. kennt den Text des Machwerks und noch viele andere Zumutungen für den guten Geschmack.
    https://grammophon-platten.de/page.php?338

    Gassenhauer des Jahres 1926

    Der Neger hat sein Kind gebissen

    Refrain
    Der Neger hat sein Kind gebissen - o-o-ho,
    warum nur tat er uns nicht küssen - o-o-ho!
    Denn wenn man nennt zehn Weiber sein,
    wollen auch geküsst sie sein,
    wollen auch geküsst sie sein.

    Im dunkelsten Landes düsterstem Urwald liegt Jumbo, der Neger, ermattet vom Streit.
    Die Frauen des Negers schimpften und zankten, weil Jumbo verletzt ihre Eitelkeit.
    Er hatte zehn Schöne gefreit nach dem Brauch, doch liebt er ein anderes Mägdelein auch -
    die küßt er stets heimlich und küßt sie so wild -
    bis rot ihr das Blut aus der Lippe quillt;
    das haben die Weiber des Jumbo geseh´n und wütend schreien nun alle zehn:

    Der Neger hat sein Kind gebissen - o-o-ho,
    warum nur tat er uns nicht küssen - o-o-ho!
    Denn wenn man nennt zehn Weiber sein,
    wollen auch geküsst sie sein,
    wollen auch geküsst sie sein.

    Das tut richtig weh. Fast so wie dieser Bericht über den Zustand der Deutschen Bahn heute (9.6.2023).
    https://www.youtube.com/watch?v=jTDtoVql4hc

    It’s not easy having a good time.
    https://www.youtube.com/watch?v=6eo-zQrLxtE


    Sagt der Mann, nachdem er sich Kannibalismus, Entführung und Vergewaltigung allerlei biologischer und konstruierter Geschlechter hingegeben hat. Wo er Recht hat hat er Recht.

    #Berlin #Kultur #Musik #Geschichte #Eisenbahn #Rassismus #Gewalt

  • RIAS-Kutte kennt sich aus mit Kurt Pomplun
    http://www.rias1.de/sound4/rias_/kutte/kutte.html

    RIAS Berlin „Kutte kennt sich aus“ (1971-1977) mit Heimatforscher Kurt Pomplun
    „Rundschau am Mittag“ 31.12.1968 Joachim Cadenbach im Interview mit Kurt Pomplun (2:54): Im Juni ist ja die Temperaturen sehr erfreulich, auch wenn Napoleon behauptet hat, der deutsche Sommer ist ein grün angestrichner Winter.

    http://www.rias1.de/sound4/rias_/rundschau/rundschau/681231_rias_aktuell_rundschau_am_mittag_joachim_cadenbach_interview_kurt_pompl
    Auf der Seite können sie die Folgen 1 bis 127 hören.

    Kurt Pomplun – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Pomplun

    Kurt Pomplun (* 29. Juli 1910 in Schöneberg; † 5. August 1977 in Berlin) war ein deutscher Heimatforscher. Er publizierte Werke zur Geschichte Berlins und Brandenburgs, seiner Mundart und mündlich überlieferten Märchen und Sagen.
    ...
    Pomplun beantragte am 27. Dezember 1937 die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 5.585.940).[1] Bereits 1933 war er der SS beigetreten, in der er es mindestens bis zum Hauptscharführer brachte.
    ...
    Im Alter von 67 Jahren verstarb Kurt Pomplun am 5. August 1977 während einer Diskussion in der Schöneberger Buchhandlung Elwert und Meurer an Herzversagen.

    #Albrechts_Teerofen #Alte_Berliner_Bahnhöfe #Amüsement #Ärzte #Bänkelsänger #Berlin #Strand_und_Freibäder #Berlin-Museum #Bernau #Biesdorf #Britz #Britz #Brücken #Brunnen #BVG-Museum #Cafes #Dahlem #Dampferfahrten #Düppel #Eisenbahn-Nahverkehr #Fasching #Filmmetropole #Friedenau #Fronau #Gartenlokale #Gassenhauer #Gatow #Geschichte #Groß-Berlin #Gründerzeit #Grunewaldseen #Häfen #Hansaviertel #Havelland #Heiligensee #Hohenschönhausen #Humor #IFA #Inseln #Jagdschloß_Grunewald #Kaulsdorf #Kladow #Klein-Glienicke #Klein-Machnow #Kneipen #Kohlhasenbrück #Kolonie_Grunewald #Köpenick #Krankenhäuser #Kurfürstendamm #Lankwitz #Leierkastenmänner #Lichtenrade #Lichterfelde #Lietzensee #Lübars #Mahlsdorf #Maibräuche #Marienfelde #Märkisches_Museum #Märkisches_Viertel #Moabit #Nikolassee #Operetten #Operetten #Pankow #Parks #Pfaueninsel #Pichelsdorf #Post-Museum #Potsdam #Potsdamer_Platz #Radio #Rauchfangswerder #RIAS #Rixdorf #Rote_Insel #Rundfunk #Sagen #SansSouci #Schloß_Charlottenburg #Schloßpark_Charlottenburg #Schmargendorf #Schmökwitz #Schöneberg #Schönow #Siemensstadt #Spandau #Spielzeug #Sport #Spreewald #Springer-Haus #Staaken #Stansdorf #Steglitz #Steinstücken #Stralau #Südende #Tegel #Tegelersee #Tempelhof #Theater #Theater #Tiergarten #Treptow #Turnen #Unter_den_Linden #Volks-Theater #Wannsee #Wedding #Weihnachten #Weinstadt_Berlin #Weißensee #Westend #Wilmersdorf #Wintergarten #Scala #Wintersport #Zeitungswesen #Zitadelle_Spandau #Zoo #Zoologischer_Garten

  • Kalter Krieg und geteiltes Berlin: Diese Museen zeigen das Frontstadt-Leben
    https://www.berliner-zeitung.de/ratgeber/kalter-krieg-und-geteiltes-berlin-diese-museen-zeigen-das-frontstad

    Die Berliner Zeitung liefert einen ordentlichen Überblick. Wirklich interessant wird es jenseits der üblichen Adressen.

    6.5.2023 von Nicole Schulze - Zum Glück ist der Kalte Krieg lange vorbei – jene Zeit, in der Ost und West sich feindlich gegenüberstanden, als Berlin eine geteilte Stadt und die Angst vor einem weiteren Weltkrieg überall in Deutschland fast schon alltäglich war.

    Der Kalte Krieg begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endete offiziell mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991. Eingeläutet wurde das Ende mit dem Fall der Mauer im November 1989. Berlin war stets im Auge des Orkans: von der Luftbrücke über Geheimagenten-Austausch bis hin zur Maueröffnung. Eine Frontstadt.

    Viele Berlinerinnen und Berliner können sich noch gut an diese Jahre – beziehungsweise Jahrzehnte – erinnern, andere sind zu jung; sie kennen den Kalten Krieg nur aus zweiter Hand, beispielsweise aus Filmen, dem Geschichtsunterricht oder von Erzählungen in der Familie.

    Wer sich dafür interessiert, wie es überhaupt zu Mauerbau und Kriegsangst kommen konnte, wer welche Interessen verfolgte, wie man damals lebte und weshalb jene Phase die Welt bis heute prägt, wird in der weiten Berliner Museumslandschaft schnell fündig.

    Erst im Herbst 2022 wurde das weitgehend interaktive Cold War Museum eröffnet, nur ein paar Meter von der Staatsbibliothek Unter den Linden entfernt. Es will beide Seiten der Geschichten erzählen, also sowohl die Sichtweise des Ostens als auch des Westens. Gezeigt und erzählt werden geheime sowie öffentlichkeitswirksame Aktionen, beispielsweise die Arbeit von Spionen, aber auch der Wettlauf um den ersten Flug ins All und zum Mond; es geht um atomare Aufrüstung ebenso wie um die Olympischen Spiele.

    Berlin spielt nicht nur in der Geschichte des Kalten Krieges, sondern auch im Cold War Museum eine besondere Rolle. Man erfährt viel über das damalige Leben in der Frontstadt. Mittels Virtual Reality kann man ins Geschehen eintauchen, quasi dabei sein und sich von einem Rundumblick beeindrucken lassen, etwa wenn der Soldat über den Stacheldraht vom Osten in den Westen springt – das Bild ging um die Welt, ist heute eine Ikone.

    Und so kommen Sie hin und rein: Das Cold War Museum finden Sie Unter den Linden 14 in Mitte, 2 Minuten zu Fuß vom U-Bahnhof Unter den Linden (U5, U6). Öffnungszeiten: Montags bis sonntags von 10 bis 20 Uhr. Tickets kosten ermäßigt 12 Euro beziehungsweise 16 Euro für Erwachsene, mit VR-Erlebnis 16 Euro beziehungsweise 20 Euro.
    Checkpoint Charlie

    Immer wieder wird der Checkpoint Charlie geschmäht: kein einheitliches Konzept, viel zu tourimäßig, kein angemessenes Gedenken, nur Fressbuden. Und dennoch ist der ehemalige Grenzübergang an der Friedrich- Ecke Zimmerstraße ein Ort, den man kennen sollte. „Schlagbaum und Kontrollbaracke, Flagge und Sandsäcke sind dem Originalschauplatz nachempfunden“, heißt es auf visitberlin.de.

    Der Checkpoint heißt übrigens gemäß dem internationalen Buchstabieralphabet so. Bei uns wäre das Anton, Berta, Cäsar. Im Englischen ist das Alpha, Bravo, Charlie. Der Checkpoint Alpha war der Grenzübergang Helmstedt-Marienborn (Niedersachen/Sachsen-Anhalt), Bravo war in Dreilinden, wo es heute ziemlich heruntergekommen aussieht.

    Der bekannteste Grenzübergang jedoch war und ist der Checkpoint Charlie zwischen Kreuzberg und Mitte. Hier „registrieren alliierte Posten ab dem 22. September 1961 die Angehörigen der amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte vor ihrer Fahrt nach Ost-Berlin“, so visitberlin.de weiter. Im Oktober 1961 stehen sich an dieser Kreuzung Panzer aus Ost und West gegenüber, USA gegen Sowjetunion, zielen mit scharfer Munition aufeinander. Die Augen der Welt waren auf Berlin gerichtet. Ein Schuss fiel glücklicherweise nicht.

    „Die Augmented Reality-App ‚Cold War Berlin‘ macht diese Geschichte dreidimensional erfahrbar: Holen Sie sich mit dem Smartphone oder Tablet ein maßstabsgetreues 3D-Modell des ehemaligen Grenzübergangs an jeden beliebigen Ort. Sehen Sie sich die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln an und entdecken Sie historische Fotos, Filme und Radiobeiträge. Tauchen Sie ein in die Geschichte des Kalten Kriegs in Berlin“, erklärt die Stiftung Berliner Mauer.

    Rund um den Checkpoint Charlie erzählen Schau- und Infotafeln vom Mauerbau und Fluchtversuchen. Einer von ihnen war Peter Fechter. Der damals 18-Jährige starb ganz in der Nähe, als er in den Westen flüchten wollte; ziemlich genau ein Jahr nach dem Mauerbau. Beim Fluchtversuch wurde er angeschossen und verblutete. Die Grenzer zu beiden Seiten schritten nicht ein – aus Angst, die Gegenseite könnte schießen. Eine Gedenkstele an der Zimmerstraße erinnert heute an Peter Fechter.

    Direkt am Checkpoint Charlie steht auch das Mauermuseum, das zahlreiche Fluchtschicksale dokumentiert und auch von geglückten, spektakulären Fluchtversuchen berichtet. Von Menschen, die die DDR verlassen wollten und von einem Leben in Freiheit, vom „goldenen Westen“ träumten.

    Und so kommen Sie hin und rein: Mit der U6 können Sie bis zur Haltestelle Kochstraße/Checkpoint Charlie fahren. Dort finden Sie nicht nur den ehemaligen Grenzübergang und die Open-Air-Ausstellung, sondern auch das privat geführte Mauermuseum. Der Checkpoint selbst ist rund um die Uhr kostenfrei zugänglich, das Museum ist täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 17,50 Euro für Erwachsene, Kinder ab 7 Jahren und Jugendliche zahlen 9,50 Euro. Kinder unter 6 Jahren haben freien Eintritt.

    Den Speicher am südlichen Ende der East Side Gallery kennen wohl alle Berlinerinnen und Berliner; eigentlich heißt er Mühlenspeicher. Dort, direkt an Oberbaumbrücke und der Spree, ist seit 2014 das The Wall Museum beheimatet und zeigt beeindruckende Audio- und Videoinstallationen auf mehr als 100 Bildschirmen – bekannte wie unbekannte Szenen. Mit dabei ist natürlich auch Kennedys „Ich bin ein Berliner“.

    Politik und Alltag werden lebendig, der Mauerbau in allen Einzelheiten erklärt. Den Blick auf die Teilung belegen Zeitungsberichte aus Ost und West. Passend dazu gehört zur Schau ein nachgebautes ostdeutsches Wohnzimmer, wie es 1961 zur Zeit des Mauerbaus typisch war. Auf Google schreibt jemand: „Überraschenderweise mein Lieblingsmuseum in Berlin, wenn ich in eine fremde Stadt reise, wünsche ich mir immer ein Museum, das die besondere Seele der Stadt einfängt, und das Mauermuseum hat es getan.“

    Und so kommen Sie hin und rein: Das Museum befindet sich an der Mühlenstraße 78–80 in Friedrichshain, ein paar Fußminuten vom U-Bahnhof Schlesisches Tor (U1) oder vom Bahnhof Warschauer Straße (U1, S3, S5, S7, S9). Vom Ostbahnhof kommend können Sie erst an der East Side Gallery entlangschlendern und dann das Museum besuchen. Geöffnet ist das täglich von 10 bis 18.30 Uhr. Tickets gibt’s ab 5 Euro, Kinder bis 7 Jahre haben freien Eintritt.
    Tränenpalast

    Es könnte wohl keinen treffenderen sprechenden Namen für diesen historischen Ort geben als Tränenpalast, die frühere Ausreisehalle, von wo aus man aus der DDR mit U-, S- oder Fernbahn in den Westen gelangte – allerdings war dieses Privileg in der Regel nur dem Westbesuch gestattet, der hier tränenreich von der Ostverwandtschaft verabschiedet wurde.

    Die Kontrollschalter und Abfertigungskabinen sind erhalten und können besichtigt werden, ebenso Schilder, Ausweispapiere, Uniformen, Videos und Fotos. Eröffnet wurde die Ausreisehalle ein Jahr nach dem Mauerbau, im Jahr 1962. Nach dem Mauerfall wurde der Verbindungsgang zum Bahnhof Friedrichstraße abgerissen, weshalb der Tränenpalast heute ziemlich einsam und klein neben dem riesigen Bahnhof steht.

    Seit 2011 beherbergt der Tränenpalast die 550 Quadratmeter große Ausstellung „Alltag der Deutschen Teilung“; verantwortlich ist die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

    Und so kommen Sie hin und rein: Der Tränenpalast ist direkt am Bahnhof Friedrichstraße (u.a. Stadtbahn, Regio, Tram M1) in Mitte. Öffnungszeiten: Dienstags bis freitags von 9 bis 19 Uhr, am Wochenende von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist kostenlos.
    Bernauer Straße

    Die Bilder aus der Bernauer Straße lösen auch heute noch Gänsehaut aus: die zugemauerten Fenster, die Verzweiflung der eilig fliehenden Menschen, nur das Nötigste in der Hand, wie sie sich aus dem oberen Stockwerk hangeln und dann rennen. Familien und Freunde wurden von jetzt auf gleich getrennt. Die Tragödie kann man in der Gedenkstätte Berliner Mauer anhand von Biografien nachempfinden.

    An der ehemaligen Grenze zwischen Wedding und Mitte wurde der Mauerverlauf dort, wo keine Betonelemente erhalten geblieben sind, mit Cortenstahl nachgezeichnet. Hier sprang der Grenzpolizisten Conrad Schumann über den Stacheldraht in den Westen – zwei Tage nach dem Mauerbau. Anders als an der East Side Gallery ist die Mauer hier nicht bunt bemalt, kein Kunstwerk, sondern wirkt abweisend und kalt.

    Einmalig ist der Wachturm mit Todesstreifen, besonders gut zu sehen von der Aussichtsplattform auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Ausmaß der Mauer wird einem hier umso mehr bewusst. Es war eben nicht nur eine hohe Betonmauer. Auf dem Areal der Gedenkstätte befinden sich auch „die freigelegten Fundamente eines ehemaligen Wohnhauses, dessen Fassade bis Anfang der 1980er Jahre die Grenzmauer bildete“, wie die Stiftung auf der Website schreibt.

    Und so kommen Sie hin und rein: Die offizielle Adresse der Gedenkstätte Berliner Mauer lautet Bernauer Straße 111 in Mitte. Dorthin kommen Sie vom S-Bahnhof Nordbahnhof (u.a. S1, S2) in 5 Minuten zu Fuß; vom U-Bahnhof Bernauer Straße (U8) sind es 6 Minuten. Das Dokumentationszentrum und das Besucherzentrum sind von dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, montags ist Ruhetag. Die Ausstellung auf dem Gedenkstättenareal kann täglich von 8 bis 22 Uhr besucht werden. Der Eintritt ist frei.

    „Wie aus Feinden Freunde wurden“ heißt die Dauerausstellung im Zehlendorfer Alliiertenmuseum und erzählt „die Geschichte der Westmächte in Berlin von 1945 bis 1994“, so der Untertitel. Natürlich geht es um Besatzung und Demokratisierung, aber auch um die Luftbrücke – zu sehen ist auch ein echter Rosinenbomber, aber auch originale Fahrzeuge, Carepakete, die Rias-Leuchtschrift. Berliner Geschichte und Weltgeschehen in einem.

    Im weiteren Verlauf der Ausstellung richtet sich der Fokus „auf die militärische Konfrontation von Ost und West während des Kalten Krieges. Berlin war ein besonders wichtiger Schauplatz für das Kräftemessen der gegnerischen Geheimdienste. Neben dem Alltagsleben in den Garnisonen werden schlaglichtartig auch die Ereignisse von der Deutschen Einheit 1990 bis zum Abzug der Westmächte beleuchtet“, heißt es auf der Website des Museums.

    Und so kommen Sie hin und rein: Das Alliiertenmuseum ist in der Clayallee 135 in Zehlendorf, direkt an der Bushaltestelle Clayallee (Bus 110); vom U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim (U3) sind es 8 Minuten zu Fuß. Geöffnet ist es immer dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, montags ist es zu. Der Eintritt ist kostenlos.

    In Karlshorst wurde das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelt: Im sowjetischen Hauptquartier, einem eher schlichten Bau, wurde in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht erklärt. „Der Saal, in dem die Unterzeichnung stattfand, ist bis heute erhalten. Er bildet das Herzstück des Museums“, heißt es auf der Website.

    In der Hauptsache beschäftigt sich das Museum Karlshorst, das bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine noch Deutsch-Russisches Museum hieß, mit dem Zweiten Weltkrieg. Es geht um das Verhältnis des Deutschen Reiches zur Sowjetunion, und Karlshorst lag nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), später in der DDR. Insofern ist dieses etwas abseits gelegene Museum ein wichtiges Puzzlestück, wenn man den Beginn des Kalten Krieges verstehen will.

    „Von 1945 bis 1949 residierte im Gebäude der Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Nach unterschiedlicher Nutzung durch das sowjetische Militär wurde 1967 in dem Gebäude das ‚Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945‘ gegründet. Es bestand bis 1994. Mit dem Abzug der russischen Truppen wurde der Verein ‚Museum Berlin-Karlshorst e.V.‘ gegründet und am 10. Mai 1995 zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa eröffnete das ‚Museum Berlin-Karlshorst‘“, steht auf der Website.

    Draußen stehen originale Panzer, die ja so charakteristisch (nicht nur) mit dem Kalten Krieg verbunden sind. Im Museum selbst finden Sie neben Propagandaplakaten, Feldpostkarten, Fotos und Videos auch Zeitungsberichte oder Tagebuchzitate.

    Und so kommen Sie hin und rein: Das Museum Karlshorst befindet sich in der Zwieseler Str. 4, direkt an der Bushaltestelle Museum Karlshorst (Bus 196), vom S-Bahnhof Karlshorst (S3, auch Tram 21, 27 u.a.) sind es 15 Minuten zu Fuß. Geöffnet ist das Museum von dienstags bis sonntags zwischen 10 und 18 Uhr, montags ist es geschlossen. Der Eintritt ist kostenlos, ein Audioguide kostet 3 Euro.

    #Berlin #Geschichte #Mauer #Museum

  • „Urban Mining Moabit“: Unter dem Gras ist der Schrei des Krieges noch zu hören


    Fundstücke von den Grabungen im Trümmerberg des Fritz-Schloß-Parks in Moabit. Geborgen von dem Kunstprojekt „Urban Mining Moabit“

    6.5.2023 von Ulrich Seidler - Ein Kunstprojekt wühlt sich in die Geschichte der Stadt und findet in den Trümmern die Fäden, mit denen die Gegenwart an die Vergangenheit gefesselt ist.

    Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie liegt weitgehend unverdaut und ganz gut geschützt unter einer Grasnarbe, die sie wie eine dünne Haut zudeckt. Eine Million Kubikmeter Trümmer haben die Rodelberge des Fritz-Schloß-Parks in Moabit im Bauch. Man kann da spazieren, in der Frühlingssonne liegen, Tennis spielen und im Winter eben Schlitten fahren. Die Steine wurden nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg von den umliegenden Ruinen eingesammelt, auf der Bodendecke einer Wehrmacht-Kasernenanlage aufgeschüttet und am Ende mit einer Schicht Mutterboden bestreut.

    Flach wurzelnde Robinien, Pappeln, Ahorn und die ortsübliche Berliner Gestrüpp-Mischung kommen am besten mit solchen Bedingungen zurecht. Strubbelgräser und Pissnelken schieben ihre Wurzeln, Pilze ihr Myzel zwischen die Ziegel, Kacheln, Fliesen, Glasscherben. Würmer, Insekten, Schnecken und Mikroben verstoffwechseln organisches Material, lassen Ausscheidungen in die Kavernen sickern, Wasser dringt in die Kapillaren ein, gefriert, sprengt Strukturen auf, lässt Bauteile zu Baustoffen erodieren. Das dauert. Bis alle Spuren vernichtet sind, dürfte die Menschheit längst ausgestorben sein.

    Der langsame Atem der Zeit

    Das spartenübergreifende freie Projekt „Urban Mining Moabit“ – künstlerisch geleitet von dem Dramaturgen Uwe Gössel – will den für die menschliche Wahrnehmung eigentlich viel zu langsamen Atem der Zeit belauschen und schickt nach einer konkreten Grabung eine metaphorische Sonde ins Innere des Berges, die durch die Flözschichten der Vergangenheit bricht, Informationen aufsammelt und Assoziationen verbreitet.

    In dem kleinen Projektraum „Kurt Kurt“, untergebracht in dem Geburtshaus von Kurt Tucholsky ( Lübecker Straße 13, 10559 Berlin), wurde am Freitag mit einem Impuls von Adrienne Göhler und unaufdringlichen performativen Interventionen eine Ausstellung eröffnet, die ähnlich sortiert ist wie das Gekröse im Berg. Der Zufall hat bei der Schichtung die Feder geführt, Objekte stoßen eine Erzählung an, die Gedankengänge verzweigen sich, brechen abrupt ab, finden woanders ihre motivische Fortsetzung und kommen nie zum Abschluss.


    Eine Collage aus Postkarten (Ausschnitt)

    Es gibt Kartenmaterial, das blitzlichthaft die Bewegung der Stadt abbildet, das Aufreißen und Vernarben von Wunden zeigt. Verrostete Türbeschläge, eine in der Hitze des Feuersturms geschmolzene Bierflasche, Ofenkacheln, deren Glasur glänzt, als hätte man sie eben erst gebrannt, werden präsentiert wie ausgegrabene Fossilien oder vorgeschichtliche Schätze – und das sind sie ja auch: Zeugnisse und Überbleibsel von Erzählungen, die beginnen, sich zu Mythen zu verdichten, zu verklären und zu verrätseln.

    Die über 90-jährige Ingrid Thorius sitzt vor dem Projektraum und erzählt, dass sie in der Lehrter Straße aufgewachsen ist und mit ihrem Freund Keule in den Bombentrichtern gebadet hat. Sie genießt die Aufmerksamkeit und scheint sich ihrer Zeitzeugenschaft bewusst zu sein, ihre Vorfahren haben die Garde-Ulanen noch auf ihren Pferden gesehen und sie weiß, wie es ist, im Keller zu hocken, während die Stadt über einem brennt. Ihre Gedanken gehen auch in die Ukraine, wo die Raketen einschlagen und die Leute unter der Erde hausen müssen, während sich oben ihre Wohnungen in Ruinen verwandeln im Mahlstrom des Krieges. Man hört ihn noch kauen, man hört seinen Schrei, wenn man durch den Fritz-Schloß-Park, wenn man durch Berlin geht.

    Urban Mining Moabit – Bodenproben Trümmerberge. 6. Mai, 16–23 Uhr Ausstellung und Film, 20 Uhr Performative Intervention, 7. Mai, 16–19 Uhr Ausstellung und Film, Ort: Projektraum Kurt-Kurt, Lübecker Str. 13, weitere Infos unter https://www.bodenproben.org

    Fritz-Schloß-Park - Berlin Lexikon
    https://berlingeschichte.de/lexikon/mitte/f/fritz_schloss_park.htm

    Auf dem Gelände befanden sich große Teile der Kontext: Kaserne des 4. Garderegiments zu Fuß Kaserne des 4. Garderegiments zu Fuß. Nach Zerstörungen im II. Weltkrieg nutzte man das Gebiet als Trümmerhalde. 1955 gestaltete Wilhelm Kontext: Alverdes, Wilhelm Alverdes den Park. Im gleichen Jahr erhielt er den Namen des Tiergartener Bezirksbürgermeisters Fritz Kontext: Schloß, Fritz Schloß. Der F. ist mit 12 ha die zweitgrößte Parkanlage des Bezirks. Hier befinden sich mehrere Sportanlagen, ein Tennisplatz, ein Hallen- und Freibad und das Poststadion. Ein Gedenkstein erinnert an die Erbauer.

    Edition Luisenstadt, 2002, Stand: 19. Mrz. 2002, Berliner Bezirkslexikon, Mitte, www.berlingeschichte.de/Lexikon/Index.html

    https://bodenproben.org

    Fritz-Schloß-Park
    https://berlin.kauperts.de/eintrag/Fritz-Schloss-Park-Seydlitzstrasse-10557-Berlin

    OPenstreetmap
    https://www.openstreetmap.org/relation/15803725

    #Fritz-Schloß-Park – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz-Schlo%C3%9F-Park

    #Berlin #Mitte-Tiergarten #Moabit #Poststadion #Stephankiez #Lübecker_Straße #Rathenower_Straße, #Kruppstraße #Seydlitzstraße #Lehrter_Straße #Geschichte #Archeologie #Kurt_Tucholsky

  • Das Haus Oldenburg und die Nazis: Eine schrecklich braune Familie
    https://taz.de/Das-Haus-Oldenburg-und-die-Nazis/!5359430

    5.12.2016 von Andreas Wyputta - Nikolaus von Oldenburg wollte im Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS seinen Clan bereichern. Seine Enkelin ist Beatrix von Storch.
    Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch.

    HANNOVER taz | Zumindest 1941 muss Nikolaus von Oldenburg noch an den Endsieg geglaubt haben: „Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich kurz wissen lassen würden, ob grundsätzlich die Möglichkeit des Ankaufs größerer Güter im Osten nach Kriegsende für mich gegeben sein wird“, schrieb der letzte Erbgroßherzog Oldenburgs an den „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler. Schließlich habe er sechs Söhne, jammerte der einstige Thronfolger, dessen Anspruch auf Oldenburg 1918 die Novemberrevolution hinweggefegt hatte – und er erhielt prompt eine positive Antwort.

    Der Bettelbrief an den millionenfachen Mörder Himmler, geschrieben am 2. Juni 1941 – also 20 Tage vor dem Angriff auf die Sowjetunion – macht deutlich, dass das NSDAP-Mitglied Nikolaus von Oldenburg den Vernichtungskrieg seiner Parteigenossen zur massiven Bereicherung seines Clans nutzen wollte. Der Ex-Großherzog, dessen Titel nach der Weimarer Verfassung nichts mehr galt, schien offenbar zu wissen, dass die Nazis weite Teile Osteuropas entvölkern wollten – und dass der „Reichsführer“ der Mann war, der den Mordplan umsetzen würde.

    Ebenfalls im Juni 1941 kündigte Himmler vor SS-Gruppenführern an, 30 Millionen als „slawisch“ identifizierte Menschen töten lassen zu wollen. Schon in den ersten Monaten des Krieges gegen die Sowjetunion ermordeten Einsatzgruppen seiner „Sicherheitspolizei“ und seines „Sicherheitsdienstes“ SD fast eine Million Menschen. Die Vernichtung der europäischen Juden folgte.
    Typische Anbiederung an die Nazis

    Die Anbiederung des Chefs des Hauses Oldenburg an die Nationalsozialisten war durchaus typisch für den nord- und ostdeutschen Adel. Der Berliner Historiker Stephan Malinowski hat bereits 2003 herausgearbeitet, dass die meisten Adligen die nationalsozialistische „Bewegung“ als nützlich empfanden – schließlich lehnten beide Gruppen die Republik mit ihrer Demokratie und ihren Parteien ebenso ab wie Parlamentarismus und Sozialdemokratie. Außerdem brachten Wiederaufrüstung, Krieg und die Verfolgung von Juden sowie Sozialdemokraten viele Adelige, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg quasi arbeitslos waren, erneut in als standesgemäß erachtete Positionen – ob in Offizierslaufbahnen oder in den höheren Verwaltungsdienst.

    Das galt auch für Nikolaus von Oldenburg. Im Heer nur Major der Reserve, brachte er es in der SA immerhin zum Standartenführer, was dem militärischen Rang eines Obristen entspricht. Er scheint aber nicht versucht zu haben, unmittelbar aus der „Arisierung“ des Vermögens von Deutschen jüdischen Glaubens zu profitieren. Im zum Freistaat erklärten ehemaligen Großherzogtum, wo die NSDAP 1932, schon ein Jahr vor der „Machtergreifung“ Hitlers, über die absolute Mehrheit im Landtag verfügte, wurden die Juden genauso entrechtet, verfolgt und vernichtet wie im Rest des Deutschen Reiches: Lebten 1925 noch 320 Juden in der Oldenburger Kernstadt, waren es 1939 noch 99 – Ende 1943 gab es hier kein jüdisches Leben mehr.

    Die Enteignung Hunderter Mitbürger war aber auch nach 1945 jahrzehntelang kein Thema im niedersächsischen Oldenburg. Durchbrochen wurde das Schweigen erst durch die Ausstellung „Ein offenes Geheimnis“. Diese Ausstellung zeigte das Ausmaß der „‚Arisierung‘ in Alltag und Wirtschaft in Oldenburg im Zeitraum von 1933 bis 1945“. „Da bleibt nur Verhungern oder Flucht“, wird Gustav Thal zitiert, der damals in Oldenburg drei Fotogeschäfte besaß. Bis 1940 wurden nicht nur jüdische Geschäftsleute gezwungen, weit unter Wert zu verkaufen. Unter dem Begriff „Ausländische Möbel“ oder „Hollandmöbel“ stand die Einrichtung von zur Emigration gezwungenen oder deportierten Juden billig zum Verkauf.

    Immerhin: Seit 2013 erinnert eine Gedenkwand an die 175 ermordeten jüdischen BürgerInnen Oldenburgs. Und bereits seit 1981 wird mit dem „Erinnerungsgang“ an das Schicksal der jüdischen Männer erinnert, die nach den Novemberpogromen 1938 an der noch brennenden Synagoge vorbei zur Polizeikaserne am Pferdemarkt, der heutigen Landesbibliothek, getrieben wurden. Erst nach Wochen und Monaten kehrten sie, gezeichnet von der Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin, vorerst zurück.
    Enkelin Beatrix von Storch hetzt gegen Europa

    Ihrer historischen Verantwortung nicht stellen will sich die derzeit wohl bekannteste Vertreterin der einstigen Adelsfamilie Oldenburg, Beatrix von Storch. Die AfD-Hardlinerin, die nach Aussage ihres Vaters Huno von Oldenburg im Ostholsteiner Anzeiger „nach alter deutscher Weise den Namen ihres Mannes“ Sven von Storch angenommen hat, phantasiert lieber vom Schusswaffengebrauch gegen Geflüchtete.

    Für die selbsternannte „Alternative“, deren Vorsitzende Frauke Petry das „Völkische“ positiv besetzen will, sitzt die Enkelin von Nikolaus von Oldenburg im Europaparlament und hetzt dort gegen die europäische Idee – was sie nicht daran hindert, jährlich Diäten und Aufwandsentschädigungen in sechsstelliger Höhe abzugreifen.

    Über so viel Geschäftssinn gefreut hätte sich sicherlich von Storchs Großvater mütterlicherseits: Hitlers Finanzminister, der in Nürnberg wegen der „Arisierung“ des Eigentums deportierter Juden durch die Finanzämter zu zehn Jahren Haft verurteilte Kriegsverbrecher Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk.

    Das Haus Oldenburg und die Nazis: Eine schrecklich braune Familie

    Nikolaus von Oldenburg wollte im Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS seinen Clan bereichern. Seine Enkelin ist Beatrix von Storch.
    Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch.

    HANNOVER taz | Zumindest 1941 muss Nikolaus von Oldenburg noch an den Endsieg geglaubt haben: „Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich kurz wissen lassen würden, ob grundsätzlich die Möglichkeit des Ankaufs größerer Güter im Osten nach Kriegsende für mich gegeben sein wird“, schrieb der letzte Erbgroßherzog Oldenburgs an den „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler. Schließlich habe er sechs Söhne, jammerte der einstige Thronfolger, dessen Anspruch auf Oldenburg 1918 die Novemberrevolution hinweggefegt hatte – und er erhielt prompt eine positive Antwort.

    Der Bettelbrief an den millionenfachen Mörder Himmler, geschrieben am 2. Juni 1941 – also 20 Tage vor dem Angriff auf die Sowjetunion – macht deutlich, dass das NSDAP-Mitglied Nikolaus von Oldenburg den Vernichtungskrieg seiner Parteigenossen zur massiven Bereicherung seines Clans nutzen wollte. Der Ex-Großherzog, dessen Titel nach der Weimarer Verfassung nichts mehr galt, schien offenbar zu wissen, dass die Nazis weite Teile Osteuropas entvölkern wollten – und dass der „Reichsführer“ der Mann war, der den Mordplan umsetzen würde.

    Ebenfalls im Juni 1941 kündigte Himmler vor SS-Gruppenführern an, 30 Millionen als „slawisch“ identifizierte Menschen töten lassen zu wollen. Schon in den ersten Monaten des Krieges gegen die Sowjetunion ermordeten Einsatzgruppen seiner „Sicherheitspolizei“ und seines „Sicherheitsdienstes“ SD fast eine Million Menschen. Die Vernichtung der europäischen Juden folgte.
    Typische Anbiederung an die Nazis

    Die Anbiederung des Chefs des Hauses Oldenburg an die Nationalsozialisten war durchaus typisch für den nord- und ostdeutschen Adel. Der Berliner Historiker Stephan Malinowski hat bereits 2003 herausgearbeitet, dass die meisten Adligen die nationalsozialistische „Bewegung“ als nützlich empfanden – schließlich lehnten beide Gruppen die Republik mit ihrer Demokratie und ihren Parteien ebenso ab wie Parlamentarismus und Sozialdemokratie. Außerdem brachten Wiederaufrüstung, Krieg und die Verfolgung von Juden sowie Sozialdemokraten viele Adelige, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg quasi arbeitslos waren, erneut in als standesgemäß erachtete Positionen – ob in Offizierslaufbahnen oder in den höheren Verwaltungsdienst.

    Das galt auch für Nikolaus von Oldenburg. Im Heer nur Major der Reserve, brachte er es in der SA immerhin zum Standartenführer, was dem militärischen Rang eines Obristen entspricht. Er scheint aber nicht versucht zu haben, unmittelbar aus der „Arisierung“ des Vermögens von Deutschen jüdischen Glaubens zu profitieren. Im zum Freistaat erklärten ehemaligen Großherzogtum, wo die NSDAP 1932, schon ein Jahr vor der „Machtergreifung“ Hitlers, über die absolute Mehrheit im Landtag verfügte, wurden die Juden genauso entrechtet, verfolgt und vernichtet wie im Rest des Deutschen Reiches: Lebten 1925 noch 320 Juden in der Oldenburger Kernstadt, waren es 1939 noch 99 – Ende 1943 gab es hier kein jüdisches Leben mehr.

    Die Enteignung Hunderter Mitbürger war aber auch nach 1945 jahrzehntelang kein Thema im niedersächsischen Oldenburg. Durchbrochen wurde das Schweigen erst durch die Ausstellung „Ein offenes Geheimnis“. Diese Ausstellung zeigte das Ausmaß der „‚Arisierung‘ in Alltag und Wirtschaft in Oldenburg im Zeitraum von 1933 bis 1945“. „Da bleibt nur Verhungern oder Flucht“, wird Gustav Thal zitiert, der damals in Oldenburg drei Fotogeschäfte besaß. Bis 1940 wurden nicht nur jüdische Geschäftsleute gezwungen, weit unter Wert zu verkaufen. Unter dem Begriff „Ausländische Möbel“ oder „Hollandmöbel“ stand die Einrichtung von zur Emigration gezwungenen oder deportierten Juden billig zum Verkauf.

    Immerhin: Seit 2013 erinnert eine Gedenkwand an die 175 ermordeten jüdischen BürgerInnen Oldenburgs. Und bereits seit 1981 wird mit dem „Erinnerungsgang“ an das Schicksal der jüdischen Männer erinnert, die nach den Novemberpogromen 1938 an der noch brennenden Synagoge vorbei zur Polizeikaserne am Pferdemarkt, der heutigen Landesbibliothek, getrieben wurden. Erst nach Wochen und Monaten kehrten sie, gezeichnet von der Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin, vorerst zurück.

    Enkelin Beatrix von Storch hetzt gegen Europa

    Ihrer historischen Verantwortung nicht stellen will sich die derzeit wohl bekannteste Vertreterin der einstigen Adelsfamilie Oldenburg, Beatrix von Storch. Die AfD-Hardlinerin, die nach Aussage ihres Vaters Huno von Oldenburg im Ostholsteiner Anzeiger „nach alter deutscher Weise den Namen ihres Mannes“ Sven von Storch angenommen hat, phantasiert lieber vom Schusswaffengebrauch gegen Geflüchtete.

    Für die selbsternannte „Alternative“, deren Vorsitzende Frauke Petry das „Völkische“ positiv besetzen will, sitzt die Enkelin von Nikolaus von Oldenburg im Europaparlament und hetzt dort gegen die europäische Idee – was sie nicht daran hindert, jährlich Diäten und Aufwandsentschädigungen in sechsstelliger Höhe abzugreifen.

    Über so viel Geschäftssinn gefreut hätte sich sicherlich von Storchs Großvater mütterlicherseits: Hitlers Finanzminister, der in Nürnberg wegen der „Arisierung“ des Eigentums deportierter Juden durch die Finanzämter zu zehn Jahren Haft verurteilte Kriegsverbrecher Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk.

    #Deutschland #Oldenburg #Geschichte #Nationalsozialismus #Beatrix_von_Storch #AfD #Adel

    #Allemagne #histoire #nazis #Oldenbourg #shoa #antisemitisme

  • Das geschah am 21. April 1945: Als die Rote Armee nach Berlin kam
    https://www.tagesspiegel.de/berlin/als-die-rote-armee-nach-berlin-kam-4696399.html

    21.4.2020 von Andreas Conrad - „Na Berlin – Pobeda“ prangt in kyrillischen Lettern an der östlichen Giebelwand des Hauses Landsberger Allee 563, eines um 1900 entstandenen, denkmalgeschützten Wohngebäudes. Offenbar ungenutzt und etwas verwahrlost wirkt es zwischen den Plattenbaugebirgen Marzahns ziemlich verloren.

    Zu DDR-Zeiten wurde an der Landsberger Allee der Befreiung Berlins gedacht.
    Zu DDR-Zeiten wurde an der Landsberger Allee der Befreiung Berlins gedacht.

    Die kleine Grünanlage daneben ist kaum noch als der Ehrenhain erkennbar, als der sie im Mai 1985 von Thälmann- und Lenin-Pionieren angelegt wurde. Auch die zwei schlappen roten Nelken vor der Giebelwand, erst recht ein verdorrter, im Gebüsch entsorgter Blumenstrauß passen nicht zu der heroischen, mit einem Sowjetstern geschmückten und um das Datum „21. April 1945“ ergänzten Inschrift. Ein zweiter Stern aus roten Zementplatten ziert den verlassenen Parkplatz.

    „Nach Berlin – Sieg“. Das öde Haus ist ein Ort des Gedenkens, wie auf vier Schrifttafeln erläutert wird: „Auf dem Weg der Befreiung Berlins vom Hitlerfaschismus hissten Sowjetsoldaten in Berlin–Marzahn die Rote Fahne des Sieges.“ Das Haus galt zu DDR-Zeiten als das erste in Berlin, das von der Roten Armee befreit worden war – eine von Lokalhistorikern mittlerweile stark bezweifelte Sicht.

    Warum hätten sich die sowjetischen Soldaten auf dem Weg nach Westen gerade dieses Gebäude aussuchen sollen und nicht weiter östlich gelegene, die es vor dem Bau der Marzahner Großsiedlung in den siebziger und achtziger Jahren auch noch gab?

    Und war es überhaupt Marzahn, wo sowjetische Soldaten erstmals Berliner Stadtgebiet betraten? Über den Vormarsch einer kämpfenden Armee wird kaum akribisch Buch mit punkt- und zeitgenauen Angaben geführt. Die Fehlergefahr bei der Überlieferung ist hoch, und auch Zeitzeugen können irren, zumal wenn die Geschehnisse Jahrzehnte zurückliegen.
    Eine Zeitzeugin erinnert sich

    In Chroniken oder entsprechenden Informationen, wie man sie im Internet findet, wird eher der nördlich von Marzahn im Bezirk Lichtenberg gelegene, noch immer dörflich geprägte Ortsteil Malchow genannt. Hier, auf der heutigen Bundesstraße 2, seien am 21. April 1945 die ersten Russen ins Stadtgebiet vorgedrungen, berichtete auch vor fünf Jahren Irene T., eine betagte Dame, die das miterlebt hatte, einem Reporter des Tagesspiegels. In Marzahn seien die Russen erst Stunden später gewesen.

    [In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

    Es waren Soldaten der aus Nordosten auf Berlin vorrückenden 1. Weißrussischen Front unter Marschall Georgi Schukow, während die 1. Ukrainische Front unter Marschall Iwan Konew in einer Zangenbewegung aus Südosten angriff. Auf der heute viel befahrenen Dorfstraße – sie heißt auch so – waren Panzersperren aufgestellt worden, gegen den Ansturm halfen sie nichts. „Der Taifun stupste die Stahlstangen nur an, und schon stand die Spitze der endlosen Kolonne im Dorf“, erzählt die Zeitzeugin.

    Um 12 Uhr seien die ersten Panzer Richtung Berliner Innenstadt vorbeigerollt, „Malchow war damit der erste besetzte und befreite Berliner Ortsteil.“ Mit dem sich die Russen aber nicht lange aufgehalten hätten. Nennenswerten Widerstand habe es nicht gegeben, die Armee habe es eilig gehabt, ins Stadtzentrum vorzustoßen.

    Der Bezirk Weißensee, zu dem Malchow damals gehörte, sei praktisch kampflos aufgegeben worden, ein von der Wehrmacht aufgebauter Abwehrring fand sich erst auf Höhe der heutigen S-Bahnstation Greifswalder Straße.

    Die russischen Soldaten waren aus Norden vom Berliner Ring her über die alte Reichsstraße 2 gekommen. Das damals erste Haus hinter dem Ortseingang gibt es noch immer, gleich zur Linken, unmittelbar hinter der Einmündung des Blankenburger Pflasterwegs: ein zweigeschossiges Wohngebäude mit großem Hof, an das sich das nächste Haus schmiegt, Brandmauer an Brandmauer.

    [...und wie war das jetzt im Berliner Westen? Hier die Geschichte, wie die Rote Armee Berlin-Spandau einnahm, Ortsteil für Ortsteil. Mehr konkrete Kiez-Nachrichten immer im Bezirksnewsletter: leute.tagesspiegel.de]

    Aber ist dort auch noch die Erinnerung an den 21. April 1945 wach, als das Haus das wahrscheinlich erste in Berlin war, das von den Russen eingenommen wurde – besetzt, befreit, je nach Sichtweise? Der Befund ist nicht eindeutig. „Ja, das stimmt“, antwortet über die Haussprechanlage spontan eine Bewohnerin, verweist ansonsten auf ihren Mann, er wisse darüber besser Bescheid.

    Der kommt zufällig gerade über die Straße, zu jung, um das historische Datum selbst erlebt zu haben. Immerhin haben seine Eltern damals hier gelebt, könnten ihm einiges erzählt haben. Aber wenn, dann ist die Erinnerung daran verblasst. Er wisse zwar von einem Onkel, der mit 16 Jahren verschleppt worden sein soll, erzählt der Mann, ansonsten könne er dazu nichts sagen.

    Zeitzeugen aus den letzten Kriegstagen zu finden, sei schwierig geworden in Malchow, hatte schon der Bäcker in seinem wenige Hundert Meter ortseinwärts gelegenen Laden gewarnt. Es gebe nur noch wenige Alteingesessene. Zwar ist er selbst einer, kann allerdings, 1943 geboren, nicht mit eigenem Erlebten aufwarten, sondern nur Bruchstücke aus Erzählungen der Eltern wiedergeben, über russische Einquartierungen, die zeitweilige Flucht mit der Mutter.

    Aber trotz der offenbar immer unbestimmter, grauer werdenden Erinnerungen ist der 21. April 1945 im Gedächtnis des Dorfes doch noch sehr lebendig – weniger aber durch den eiligen Vorbeimarsch der Roten Armee als durch den kurz zuvor erfolgten Abmarsch der Wehrmacht.
    Die Soldaten der Wehrmacht sprengten die Kirche

    Nach der Erinnerung von Irene T. war es 10.30 Uhr, als deutsche Soldaten die mittelalterliche Dorfkirche sprengten, deren Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Der Turm schien den Tätern offenbar von militärischer Bedeutung, zugleich Orientierungspunkt und Ausguck bis weit hinein nach Berlin, und musste daher weg, ebenso wie die Kirchtürme der Nachbargemeinden in Wartenberg und Falkenberg.

    Vielleicht stand dahinter aber, so sieht es Renate Kersten, Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinden Malchow-Wartenberg, die gegen Kriegsende betriebene Strategie der verbrannten Erde, wie sie Hitler einen Monat zuvor in seinem sogenannten „Nerobefehl“ angeordnet hatte.

    Hitler hatte am Tag vor dem russischen Einmarsch im Bunker unter der Neuen Reichskanzlei seinen letzten Geburtstag begangen, am 21. April hielt Goebbels seine letzte Rundfunkansprache: Für die Verteidiger Berlins sei die „Stunde der Bewährung“ gekommen, mit allen Mitteln werde er die Verteidigung der Reichshauptstadt aktivieren, zum Sieg über den „Mongolensturm“.

    Die beschworene Gefahr überstand Malchows Bausubstanz weitgehend unversehrt. Nur ein Haus sei von sowjetischen und polnischen Soldaten in Brand gesteckt worden, und zuvor bei Bombenangriffen auf eine Munitionsfabrik an der Wartenberger Straße seien vier Gebäude zerstört worden, erinnerte sich Irene T.

    Ein Mahnmal erinnert an damals

    Das Wahrzeichen des Ortes aber hatten deutsche Soldaten der Wehrmacht, nicht etwa der SS auf dem Gewissen, sagt Pfarrerin Renate Kersten – und zwar, wie schon von der Zeitzeugin erinnert, am 21. April, das beweise der Jahresbericht der damals in der Kirchengemeinde arbeitenden Diakonisse.

    Vom Pfarrer sei kein Widerstand gegen die Sprengung seines Gotteshauses gekommen, er habe als strammer NS-Anhänger gegolten. Die an der Dorfstraße gelegene und vom Gemeindefriedhof umgebene Kirche wurde nicht wiederaufgebaut. Immerhin durfte die Gemeinde sich in den frühen fünfziger Jahren ein benachbartes Ersatzgebäude errichten, die einzige zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin errichtete Kirche, wie die Pfarrerin weiß. Nur sollte sie nicht wie eine Kirche aussehen, an einen Turm war nicht zu denken.

    Das alte Gotteshaus blieb jahrzehntelang ein Schutthaufen, bis man sich vor fünf Jahren, anlässlich des bevorstehenden 70. Jahrestages des Kriegsendes, in der Gemeinde entschied, der Erinnerung wieder einen festeren Haltepunkt zu geben – zumal teilweise bereits geglaubt wurde, die Russen hätten die Kirche gesprengt.

    Mithilfe des Dorfvereins „Wir für Malchow“ wurde ein Mauerrest restauriert und zu einem Mahnmal umgewandelt. „Ehre Gott – Friede auf Erden“ steht nun an der Wand, „2. Weltkrieg“ auf einem davor liegenden Findling.

    Die Dorfkirche von Malchow wurde am 20. April 1945 von der Wehrmacht gesprengt, um der Roten Armee keine Orientierungspunkte zu bieten.
    Die Dorfkirche von Malchow wurde am 20. April 1945 von der Wehrmacht gesprengt, um der Roten Armee keine Orientierungspunkte zu bieten.

    Die verbliebenen Steine hat man in eiserne Gitterkästen gefüllt und damit den Umriss des Gotteshauses nachgezeichnet – eine Art „Cabriokirche“, wie die Pfarrerin scherzt. Dort findet jährlich am 21. April ein Gedenkgottesdienst statt, der coronabedingt erst wieder in einem Jahr gefeiert werden kann.

    Dann dürfte die restaurierte Fensternische des Mauermahnmals auch eine Nachbildung der Bronzefigur eines Geistlichen zieren, die dort ursprünglich stand. Das Original ist seit zwei Jahren weg. Es wurde gestohlen.

    #Berlin #Marzahn #Landsberger_Allee
    #Geschichte #1945

  • Provenienzforschung an Bibliotheken: „Ein Teil der Familiengeschichte“
    https://taz.de/Provenienzforschung-an-Bibliotheken/!5924788

    11.4.2023 von Claudius Prößer - Sebastian Finsterwalder erforscht die Herkunft von Büchern der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die in der NS-Zeit zu Unrecht erworben wurden. Sebastian Finsterwalder, 40, ist ausgebildeter Fachangestellter für Medien- und Informationsdienste und an der ZLB als Provenienzforscher tätig.

    taz: Herr Finsterwalder, seit wann erforscht die Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) die Provenienz, also die Herkunft von Büchern?

    Sebastian Finsterwalder: Vor rund 20 Jahren hat ein Mitarbeiter an unseren historischen Sammlungen gearbeitet und dabei einige interessante Funde gemacht. Er brachte das Thema NS-Raubgut in der Berliner Stadtbibliothek zum ersten Mal aufs Tapet – es gab dazu dann auch eine Ausstellung und eine Publikation. 2009 wurden dann Stellen für die Durchsicht des Bestands nach Raubgut geschaffen.

    Wie groß ist heute Ihr Arbeitsbereich?

    Unsere personelle Ausstattung schwankt etwas. Wir haben das Äquivalent von 1,7 Stellen, zurzeit unterstützt uns noch ein wissenschaftlicher Mitarbeiter – dessen Stelle nach dem Auslaufen aber hoffentlich wieder besetzt wird.

    Und wie gehen Sie konkret vor?

    Wie sehen uns jedes einzelne Buch an, bei dem es einen Verdacht gibt. Bücher als Raubgut zu identifizieren, funktioniert nur, wenn die Vorbesitzer Spuren hinterlassen haben. Stempel oder Exlibris, also eingeklebte, kunstvoll gestaltete Zettel. So versuchen wir, den konkreten Weg eines Bandes in unserem Bestand zu erforschen und ihn dann nach Möglichkeit zurückzugeben. Wenn diese Bücher Institutionen gestohlen wurden, etwa der SPD oder einer Freimauerloge, ist das relativ einfach, da gibt es meistens Nachfolgeinstitutionen. Deutlich wichtiger ist uns aber die Restitution an Privatpersonen. Bei denen kommt es darauf an, überlebende Familienmitglieder zu finden, die oft auf der ganzen Welt verstreut sind.

    Es geht dabei immer um die Zeit des Nationalsozialismus?

    Unser Fokus liegt klar auf der NS-Zeit, denn damals kamen viele unrechtmäßig erworbene Exemplare in den Bestand der Stadtbibliothek. Entdeckt haben wir allerdings auch andere sogenannte Entzugskontexte: Es gibt Beutegut, das im Zusammenhang mit Kriegshandlungen in die Bibliothek kam, zum Teil sogar schon im Ersten Weltkrieg, auch Raubgut aus der Zeit der SBZ und der DDR oder im Zusammenhang mit der „Aktion K“ der tschechischen Kommunisten gegen katholische Klöster im Jahr 1950. Auf Bücher aus kolonialen Kontexten sind wir noch nicht gestoßen – was nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt.

    Reden wir hier nur von der Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße?

    Heute ist der 5. Internationale Tag der Provenienzforschung, bei der es um die rechtmäßige Herkunft von Kulturgütern geht. Aus diesem Anlass laden diesmal fünf Berliner Institutionen, die sich mit der Sammlung von Büchern und anderen schriftlichen Dokumenten befassen – die Staatsbibliothek, die Bibliothek der Akademie der Künste, die Bibliothek des Deutschen Historischen Museums, das Zentralarchiv der Staatlichen Museen sowie die Zentral- und Landesbibliothek – zu „Provenienzspaziergängen“ ein. Diese führen unter dem Motto „#spurensuche“ an historische Orte in Mitte, die mit der Geschichte ihrer Sammlungen verknüpft sind. Professionelle Guides führen die TeilnehmerInnen über vier Routen, die Gruppen werden an den Stationen von den Forschenden der jeweiligen Einrichtung in Empfang genommen und erfahren mehr über deren Arbeit.

    Fast ausschließlich, ja. Die Stadtbibliothek hat den größten Altbestand, und dieser ist gleichzeitig am besten dokumentiert. In der Amerika Gedenkbibliothek fehlen uns leider die historischen Zugangsbücher. Unsere Aufgabe ist ein Wettlauf mit der Zeit, die Rückgabe wird immer schwieriger und wir müssen mehr als eine Million Bücher durchsehen. Da sind die Chancen, schnell fündig zu werden, bei der Stadtbibliothek einfach am größten.

    Eine Million?

    Das war der Berg, vor dem wir standen: die Bestände, die vor 1945 erworben wurden und damit generell verdächtig sind. Laut Richtlinie werden vor 1945 erworbene Bücher nicht entsorgt, bevor wir sie durchgesehen haben. Nicht alle sind unrechtmäßig erworben, aber das müssen wir eben prüfen.

    Und wie viele haben Sie bis heute geprüft?

    Etwa 150.000. Als NS-Raubgut konnten wir bislang etwa 3.000 identifizieren, die von 195 Personen oder Institutionen stammten. Gut 1.000 davon konnten wir bislang zurückgeben. Einen großen Teil werden wir im Übrigen wohl nie erkennen, weil entsprechende Hinweise fehlen.

    Wie viele geraubte Bücher kamen denn nach Ihrer Schätzung ins Haus?

    Mit Sicherheit mehrere zehntausend. Allein im Jahr 1943 hat die Stadtbibliothek rund 40.000 Bände von der städtischen Pfandleihanstalt gekauft, die aus den Wohnungen deportierter BerlinerInnen stammten. Allerdings haben wir herausgefunden, dass die Bibliothek einen Teil gleich an Privatpersonen weiterverkauft hat. Wie viel sich davon noch im Magazin befindet, ist also unklar. Andererseits kam auch noch lange nach dem Krieg viel Raubgut ins Haus, etwa über Ankäufe aus Antiquariaten, einfach weil das Thema Provenienz bis in die 90er Jahre hinein keine Rolle spielte.

    An wen haben Sie Bücher zurückgegeben?

    Zu den institutionellen Nachfolgern gehören etwa die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Bei ungefähr der Hälfte der Fälle handelte es sich um Bücher von Privatpersonen, oft geht es da um eine kleine Zahl von Exemplaren. Ein etwas größerer Umfang waren rund 40 Bücher aus dem Besitz des Biochemikers Carl Neuberg. Die ersten davon haben wir an die Erben restituiert – als es mehr wurden, haben wir sie auf deren Bitte an das New Yorker Leo Baeck Institute weitergegeben. Komplette Bibliotheken wurden nach unserem Kenntnisstand übrigens nicht übernommen, die waren schon vorher zerpflückt worden.

    Kommt es häufig vor, dass Privatpersonen Bücher nicht annehmen?

    Sehr selten. Mit dem Buch können wir ihnen ja meist einen Teil der Familiengeschichte zurückgeben.

    Und mit der Rückgabe endet Ihre Arbeit im konkreten Fall?

    Nicht ganz: Wir dokumentieren und publizieren unsere Funde in der kooperativen Datenbank Looted Cultural Assets. Die wurde bei uns im Haus entwickelt, mittlerweile betreiben wir sie in einer Kooperation mit der Freien Universität. Beteiligt ist daran inzwischen ein gutes Dutzend Bibliotheken, seit Kurzem auch das Berliner Landesarchiv.

    #Berlin #Bibliotheken #Geschichte

  • Rumpler-Tropfenwagen
    https://de.wikipedia.org/wiki/Rumpler-Tropfenwagen#Fahrzeug

    Wegen technischer Probleme – der Sechszylindermotor war unzuverlässig und die Lenkung mangelhaft konstruiert – und des fehlenden Kofferraumes war das Fahrzeug kein kommerzieller Erfolg, weswegen bis 1925 nur etwa 100 Exemplare in den Rumpler-Werken in Berlin-Johannisthal gebaut wurden. Die meisten davon liefen in Berlin als Taxis.

    Metropolis
    https://de.wikipedia.org/wiki/Metropolis_(Film)#Sonstiges

    Für die Dreharbeiten kaufte die Ufa den bankrotten Rumpler-Werken die Restbestände des legendären futuristischen Tropfenwagens als Requisiten ab. Die Fahrzeuge sind gegen Ende des Films in einer Straßenszene zu sehen und wurden in der finalen Szene zerstört – sie dienten als Sockel des Scheiterhaufens, auf dem der Maschinen-Mensch verbrannt wird.

    #Berlin #Taxi #Geschichte #Aerodynamik

  • Historie: Spandauer Volksblatt
    https://verlagsservice-lezinsky.de/wir-ueber-uns/historie/spandauer-volksblatt

    Das Spandauer Volksblatt ist heute eine kostenlos verteilte Berliner Wochenzeitung – hervorgegangen aus der ehemaligen Tageszeitung Spandauer Volksblatt und dem Anzeigenblatt Spandauer Anzeiger. Die Geschichte des Spandauer Volksblatts ist gleichzeitig ein Stück Spandauer und Berliner Zeitgeschichte.

    Die Gründung

    Nach dem Zweiten Weltkrieg begründete Erich Lezinsky (geb. 1886 im Oderbruch) eine neue Zeitung für den Berliner Bezirk Spandau. Lezinsky war als Schriftsetzer über Landsberg an der Warthe nach Berlin gekommen. Als SPD-Mitglied bildete er sich fort und wurde Journalist. Bis 1933 leitete er in Spandau eine SPD Zeitung namens VOLKSBLATT. Während des Krieges war er mehrfach inhaftiert gewesen und im Luftahrtgerätewerk Spandau-Hakenfelde zwangsverpflichtet.

    Nach langwierigen Bemühungen erhielt der politisch unbelastete Lezinsky von der britischen Militärregierung die Lizenz für eine Tageszeitung – als einer der ersten Deutschen nach dem Krieg. Die Briten hatten diese Lizenz offenbar bewusst auf seinen Namen ausgeschrieben und nicht auf die SPD, die bereits andere Lizenzen besaß und die Vorkriegsansprüche auf den Titel formal nie aufgab. Lezinsky gab dem Titel den Namen Spandauer Volksblatt. Damit erinnerte er einerseits an die bürgerliche Zeitungstradition der Verlegerfamilie Stückrath, die zuvor die Spandauer Zeitung veröffentlicht hatte und andererseits eben an das SPD Volksblatt.

    Die erste Ausgabe erschien am 5. März 1946. Die ersten Auflagen der drei Mal wöchentlich erscheinenden Zeitung mit vier bis sechs Seiten umfassten 10.000 bis 20.000 Exemplare. Im Abonnement war das zunächst eher liberal eingestellte Spandauer Volksblatt ab Mai erhältlich. Täglich außer montags – wie in West-Berlin jahrzehntelang üblich – wurde das Blatt ab September 1946 auf den Markt gebracht. Unterstützt wurde Erich Lezinsky von Spandauer Geschäftsleuten, so auch von dem bundesweit bekannten Gastronom Ludwig Metzler (Gründer der Brillat Savarin Stiftung e.V.).

    Die Nachfolge Erich Lezinskys

    Nach dem Tod von Erich Lezinsky im Jahre 1952 übernahmen seine Ehefrau Margarete und sein Sohn Kurt die Verlagsgeschäfte zusammen mit wechselnden Geschäftsführern. Als beide 1967 verstarben, führte seine Witwe Ingrid Lezinsky (geborene Metzler) die Geschäfte weiter. Sie heiratete 1970 den Schauspieler und Coca-Cola-Manager Joachim Below.

    In den 1970er Jahren gab der Verlag jährlich den Spandauer Almanach heraus. Nach dem Tod Belows im Jahr 1987 übernahmen Ingrid Below-Lezinsky und Sohn Rainer die Führung des Verlagshauses. Der zweite Sohn Olaf Lezinsky arbeitete seit 1991 in der Anzeigenabteilung mit.

    Nachdem viele Zeitungen in West-Berlin aufgeben mussten (Der Abend, Der Telegraf, Nachtdepesche), wagte der Erich-Lezinsky-Verlag den Schritt über Spandau hinaus auf den gesamten Berliner Zeitungsmarkt. Ab 1981 nannte man sich Spandauer Volksblatt Berlin. Zehn Jahre später wurde die Zeitung erneut umbenannt und hieß kurz und knapp Volksblatt Berlin. Später eine Weile lang gar nur Volksblatt.

    Eine sozialliberale Stimme in West-Berlin

    Prägend über viele Jahre war der Chefredakteur Hans Höppner, der das Blatt nach einem Streit mit der SPD wegen alter Lizenzansprüche ab den 1960er Jahren wieder einer sozialliberalen Leserschaft öffnete. Das Spandauer Volksblatt ließ als erste Zeitung die Anführungszeichen beim Begriff „DDR“ weg und beschäftigte zeitweilig Autoren wie Günter Grass und Wolfgang Neuss. In den 80er Jahren öffnete die Redaktion vielen bekannten Persönlichkeiten eine tägliche Kommentar-Kolummne.

    Viele bekannte deutsche Journalisten gingen aus dem kleinen Verlag in der Neuendorfer Straße hervor. Auch Anne Will, später Tagesthemen-Moderatorin und heutige Talkmasterin, ist ehemalige Volksblatt-Mitarbeiterin. Hagmut Brockmann leitete viele Jahre die Kulturredaktion. Manfred Volkmar, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur, übernahm später die Leitung der Berliner Journalisten-Schule. Hans Höppner starb 2006.
    Ergänzende Aktivitäten

    Anfang der 1970er Jahre gründete die Verlegerin auf Anregung des Anzeigenleiters Gerhard Dünnhaupt mit dem Spandauer Anzeiger eines der ersten und schnell sehr erfolgreichen kostenlosen Anzeigenblätter. Der Verlag lebte auch sehr stark vom Auftragsdruck in der verlagseigenen Rotationsdruckerei im Hinterhaus der Neuendorfer Straße 101 am sogenannten Spandauer Hafenplatz. Unter anderem wurde hier jahrelang jede Nacht die TAZ Berlin gedruckt. Aber auch Zeitungen für alle demokratischen Parteien und die Umweltbewegung neben vielen rein kommerziellen Titeln. Außerdem war Ingrid Below-Lezinsky viele Jahre lang für die Durchführung sehr persönlich gestalteter Leserreisen bekannt. Trotz einer nennenswerten Ausdehnung des Spandauer Volksblattes auch in die anderen West-Berliner Bezirke, bildete die Spandauer Leserschaft und der Lokalteil das wirtschaftliche Rückgrat der Zeitung.
    Kooperation mit dem Springer-Verlag

    Noch vor dem Fall der Berliner Mauer und kurz nach dem Tod von Joachim Below beteiligte die Familie Lezinsky – auch die jüngeren Söhne Olaf und Lars waren beteiligt – den Axel Springer Verlag am Erich Lezinsky Verlag mit zunächst 24,9 Prozent. Der Schritt war in West-Berlin umstritten, da Springer als konservativ galt, während das Spandauer Volksblatt eher eine linksliberale Ausrichtung hatte. Allerdings war die Familie der Ansicht, dass die Zeitung im Verbund der Springer-Presse eine größtmögliche Unabhängigkeit habe und kartellrechtlich keine Mehrheitsbeteiligung möglich sei. Somit wollte man auch den Verbleib der Familie in der Gesellschaft sichern, was beim Hereinnehmen eines anderen Zeitungskonzerns schwierig gewesen wäre.

    Die Fusion wurde 1990 durch das Bundeskartellamt zunächst rückwirkend untersagt, da Springer durch den Zusammenschluss die ohnehin schon zuvor bereits bestandene beherrschende Stellung „auf dem Lesermarkt für regionale Abonnement-Tageszeitungen und dem Anzeigenmarkt im westlichen Teil Berlins“ verstärkt hätte. Das wurde durch den Mauerfall obsolet und die Genehmigung wurde später erteilt, da nun zahlreiche andere Zeitungskonzerne nach Berlin strömten, um hier ihr Glück zu versuchen.
    Veränderte Situation nach dem Mauerfall

    Nach dem Mauerfall 1989 wurde der Schritt gewagt, sich auf das benachbarte Havelland auszudehnen. Das war mit zahllosen Aktivitäten in der ganzen Region verbunden, Doch diese Ausdehnung scheiterte an den Möglichkeiten des Verlags. Die Märkische Allgemeine Zeitung, aus der Märkischen Volksstimme hervorgegangen, blieb zunächst Marktführer. Daher zog sich das Volksblatt aus Brandenburg zurück, wo mit dem Havelland-Anzeiger zunächst ein sehr erfolgreiches Anzeigenblatt gestartet worden war, und konzentrierte sich wieder verstärkt auf den Spandauer Markt.

    Einher ging dies mit der Rückbenennung in Spandauer Volksblatt. Jedoch waren die wirtschaftlichen Probleme inzwischen so gewachsen, dass das tägliche Erscheinen am 29. Februar 1992 aufgegeben wurde. Das Spandauer Volksblatt war letztlich als lokale Abonnementzeitung zu klein, um ausreichend Anzeigen zur Finanzierung ein zu werben. Die Lücken konnten durch den neuen Gesellschafter, die Axel Springer AG, die selber in mehreren großen Regionalzeitungen in der ehemaligen DDR engagiert war, nicht immer wieder gestopft werden.

    Einige Redakteure wurden von anderen Berliner Zeitungen übernommen, die Berliner Morgenpost und die Berliner Zeitung errichteten eigene Redaktionen in Spandau und produzierten mehrere Jahre lang jeweils eine tägliche Spandau-Seite für die Leser dieses Bezirks, was dann aber ebenfalls scheiterte. Die erste Ausgabe des Volksblattes als Wochenzeitung kam am 5. März 1992 auf dem Markt.
    Das Volksblatt wird Anzeigenblatt

    Am 24. Juni 1992 schließlich wurde die Erscheinungsweise auf ein wöchentlich herausgegebenes und kostenloses Anzeigenblatt umgestellt. Genaugenommen wurde das Spandauer Volksblatt vollständig eingestellt, während die kostenlose wöchentliche Anzeigenzeitung Spandauer Anzeiger fortgeführt und lediglich der bekanntere Name der ehemaligen Tageszeitung auf das Anzeigenblatt übertragen wurde. Der Spandauer Anzeiger, wie auch die Vorgängertitel Spandauer Zeitung und Havelländische Zeitung leben in der Titelunterzeile fort.

    Die Mehrheit am Erich-Lezinsky-Verlag übernahm, nachdem mit der Einstellung der täglichen Erscheinungsweise auch der Hinderungsgrund des Bundeskartellamtes wegfiel, nunmehr der Axel Springer Verlag in mehreren Schritten bis zur kompletten Übernahme. Herausgeberin blieb aber bis zu ihrem Tode 2005 die Witwe Kurt Lezinskys, Ingrid Below-Lezinsky. Nachdem der Verlag jahrzehntelang gesellschaftsrechtlich der Familie Lezinsky gehört hatte, legte der Axel Springer Verlag die alten Lizenzstreitigkeiten aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren zwischen der Familie und der SPD mit einer Zahlung an die SPD-Beteiligungsfirma Konzentration GmbH bei.

    Zuletzt wurden zahlreiche Tageszeitungen, Zeitschriften und auch die Anzeigenblattverlage der Axel Springer AG an die Funke Gruppe (ehemals WAZ Gruppe) verkauft. Dazu gehört auch der Titel „Spandauer Volksblatt“.
    Spandauer Ausgabe der Berliner Woche

    Seit 1994 ist das Volksblatt nun die stärkste Lokalausgabe des auflagenstärksten Berliner Anzeigenblattes Berliner Woche. Das Spandauer Volksblatt erscheint derzeit wöchentlich mit mehr als 108.000 Exemplaren fast flächendeckend in Spandau und hat als einzige Lokalausgabe der Berliner Woche (Auflage: 1.530.000 Exemplare) eine eigene Lokalredaktion, die an die Redaktion der Berliner Woche angegliedert ist. Die Zustellung erfolgt über den BZV, die Zustellorganisation der Berliner Zeitungsverlage.

    Die Gebrüder Rainer und Olaf Lezinsky betreuen den Anzeigen- und Beilagenverkauf des Titels. Im stadtgeschichtlichen Archiv in der Zitadelle Spandau können die fast vollständigen Jahrgänge der Zeitung, teilweise auch des Spandauer Anzeigers eingesehen werden. Unter www.spandauer-volksblatt.de und unter www.berliner-woche.de kann man wochenaktuell die Ausgaben Spandau Nord und Spandau Süd einsehen.

    #Berlin #Spandau #Presse #Geschichte #Neuendorfer_Straße #Hafenplatz

  • Vokabeln für angehende Berliner
    https://m.dw.com/de/vokabeln-f%C3%BCr-angehende-berliner/a-3947351

    Kein A bis Z sondern nur ein A bis S und die Einleitung ist hingeschluderter Schreibsklavenquatsch, aber was solls. Kleine Erinnerung an Werden und Vergehen der immer anderen Berliner Sprechweisen.

    Wer als echter Berliner durchgehen will, muss mit Begriffen wie Bredullje und etepetete, Mischpoke und Molle vertraut sein. Hier lernt ihr die richtige Berliner Schnauze kennen. Kiekt einfach ma’ rin!

    Aas – unbeliebter Mensch: Dit Aas kenn ick!

    Asche – Geld: auch Knete, Kies, Mäuse, Moos oder Penunse

    Ast – sich köstlich amüsieren: Ick lach ma n Ast.

    Atze – Bruder: Wat macht deen Atze?

    ausjefressen – etwas Unerlaubtes machen: Wat haste wieda ausjefressen?

    ausklamüsern – ausfindig machen, herausbekommen

    Bammel haben – vor etwas Angst haben

    Bagage – unangenehme Gesellschaft, Verwandtschaft

    Been – Bein: Ick mach dir gleich Beene! – jemanden zur Eile antreiben

    belatschern – jemanden überreden

    Bredullje – (aus d. franz.) Ick bin schon wieder in der Bredullje! Für „bredouille“ – in Schwierigkeiten, in der Klemme, Bedrängnis, Notlage

    etepetete – abfällig für zimperlich, fein, auf gute Manieren bedacht

    Fatzke – eitler, aufgeblasener, arroganter Mensch

    Fisimatenten – Ausflüchte, Mätzchen (frz. visitez ma tente oder visiter ma tante)

    flöten jehn – verloren gehen

    futsch – verloren: Dit Jeld is futsch.

    Gold-Else – Siegesgöttin auf der Siegessäule

    Graf Koks – Angeber

    Großkotz – Angeber

    helle – klug

    Husche – kurzer Regenschauer

    husten – ich denke gar nicht daran: Ick wer dir wat husten.

    icke – ich: Zuerst komm’ ick, denn kommt lange janüscht.

    jehörich – stark, sehr

    j.w.d. (jottwede) – janz weit draußen, zum Beispiel das Berliner Umland

    kieken – gucken, schauen: Er kiekt sich die Oogen aus’n Kopp. (Er schaut sich die Augen aus dem Kopf)

    Kiez – Stadtviertel, in dem man wohnt

    kleen – klein

    koofen – kaufen

    Kuhkaff – kleiner Ort

    loofen – laufen

    meschugge – verrückt

    Mischpoke – Verwandtschaft

    Molle – Ein Glas Bier (Molle mit Korn = Berliner Gedeck: Bier und ein Schnaps) geht der Berliner abends „zischen“.

    Muckefuck – Löslicher Kaffee, Malz-Kaffee

    Neese – Nase

    Nüscht jenauet weeß man nich – Keine Ahnung haben

    Öljötze – Ölgötze - steifer, langweiliger Mensch

    Ooge – Auge

    pampich – pampig – frech, anmaßend

    pesen – rennen, laufen

    Quadratlatschen – große Füße

    Remmidemmi – Vergnügen, Krach, Aufstand

    rinbuttern – (erfolglos) Geld investieren

    Schale – Anzug (sich in Schale schmeißen, sich gut anziehen)

    Schlamassel – schwierige Situation

    schnieke – fein, elegant

    schnuppe – gleichgültig

    Schrippe – Brötchen

    Stulle – Stück Brot

    #Berlin #Umgangssprache #Geschichte