• Urteil in Berlin: Manne, 84, soll sein Elternhaus in Reinickendorf räumen
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/urteil-in-berlin-manne-84-soll-sein-elternhaus-in-reinickendorf-rae


    Manfred Moslehner, genannt Manne, lebt seit seiner Geburt in dem Haus in Berlin-Reinickendorf, das er nun per Urteil räumen muss.

    Deshalb bleiben uns die Fahrgäste weg: Mieten und alle anderen Lebenshaltungskosten steigen, die Leute können es sich immer weniger leisten, ein Taxi zu rufen, wenn sie etwa zum Arzt müssen. Die zur Zeit geltenden Gesetze sind nicht zu ihren Gunsten sondern für im Interesse der Reichen und Wohlhabenden gemacht. Die Geschichte von Manne ist deshalb keine Tragödie sondern die eines Verbrechens, das darin besteht, Menschen aus ihren Wohnungen zu vertreiben, wenn keine andere für sie geeignete Unterkunft bereitsteht.

    Manne hat sein Gefecht verloren. Der Krieg Reich gegen Arm geht weiter.

    Tegel, 13509, Am Brunnen 17-23,
    https://www.openstreetmap.org/way/22491297


    https://m.kauperts.de/Strassen/Am-Brunnen-13509-Berlin
    Lage: Falk Plan C11, vom Myrtenweg abgehend

    22.4.2024 von Wiebke Hollersen - Seit 14 Jahren kämpfen Rentner in Berlin-Reinickendorf gegen einen Immobilien-Investor. Nun ist gegen den ersten von ihnen ein hartes Urteil ergangen. Ein Bericht aus dem Gericht.

    Er ist nicht ins Amtsgericht Wedding gekommen am Montagmorgen, sondern in seinem Haus in der Siedlung am Steinberg in Berlin-Reinickendorf geblieben. Noch ist es seins. Er wohnt hier, seit er auf der Welt ist. Seit 84 Jahren. Seine Eltern haben es gemietet, dann er, Manfred Moslehner, Manne, wie ihn seine Freunde aus der Siedlung nennen, die seit langem seine Familie sind. Die einzige, die er noch hat.

    Sie werden ihm später sagen, was passiert ist, dass die Lage wieder schlimmer geworden ist, der Druck auf ihn weiter steigt.

    „Es geht ihm nicht gut“, sagt Brigitte Lenz am Morgen. Manne sei durcheinander. „Ein Jahrzehnt Psychoterror hinterlässt Spuren“, sagt ihr Mann, Hartmut Lenz. Das Paar führt den Kampf der Mieter der Siedlung gegen die Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbH an, die ihre kleinen, alten Reihenhäuschen vor 14 Jahren gekauft hat. Und die Mieter seitdem mit Ankündigungen umfassender Modernisierungen in die Verzweiflung treibt, wie sie sagen. Die Mieten nach diesen Modernisierungen wären für die Bewohner, fast alle sind Rentner, viele über 80, nicht mehr bezahlbar. Längst würden für bereits umgebaute Häuser der Siedlung Kaltmieten von mehr als 4000 Euro verlangt, sagt Hartmut Lenz.


    Mieter aus der Siedlung am Steinberg und Mitstreiter am Montagmorgen vor dem Amtsgericht Wedding. Hartmut Lenz hält das Schild in der Hand. Foto Wiebke Hollersen/Berliner Zeitung

    Räumungsurteil gegen Manne: Drei Monate bleiben ihm

    Manfred Moslehner ist nun der erste der verbleibenden Mieter, dessen Mietvertrag wegen seiner Weigerung, die Modernisierung zuzulassen, nicht nur gekündigt, sondern der auch auf die Räumung seines Hauses verklagt wurde. Am Montag vor einer Woche fand vor dem Amtsgericht Wedding die Verhandlung statt, er verfolgte sie in sich zusammengesunken. Ein hagerer Mann in einer grauen Jacke.

    Zu Hause hört er klassische Musik, er kennt sich in der Weltliteratur aus. Er hat als Maschinenschlosser gearbeitet, weil sein Vater nicht wollte, dass er Abitur macht und studiert, hat er im Dezember erzählt. Sein Freund Hartmut Lenz berichtet immer wieder von einem Schock kurz vor Weihnachten: Manne habe mit einer Kiste mit seinen Klassik-CDs vor seiner Tür gestanden und sie ihm schenken wollen.

    Die Richterin drängte vor einer Woche beide Parteien: Könne man sich nicht doch noch ohne Urteil einigen? Das schloss der Justiziar der Wertconcept Investment GmbH aus. Er hatte sich als Vertretung von Moslehners Vermieter vor Gericht vorgestellt – obwohl in der Räumungsklage die Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft als Vermieter und Kläger genannt ist. Die Richterin wirkte, als wolle sie es vermeiden, urteilen zu müssen, betonte, dass sie sich an geltendes Recht halten müsse.

    Nun verkündet sie ihr Urteil. Etwa 20 Mitstreiter aus der Mietergemeinschaft sind auch diesmal gekommen, um dabei zu sein. Auch Vertreter der SPD im Bezirk und Mitarbeiter der Grünen. Klaus Behrendt, genannt Hütchen, schiebt sich mit seinem Rollator ins Gericht. Um 9.15 Uhr verliest die Richterin die für sie schlechten Nachrichten.

    Manfred Moslehner wird verurteilt, sein Häuschen, „vier Zimmer, Küche, Bad, Toilette, Kriechkeller“, herauszugeben, „im geräumten Zustand“, er hat drei Monate Zeit, danach ist das Urteil „vorläufig vollstreckbar“, also auch dann, wenn Moslehner in Berufung gehen würde. Es sei denn, der Rentner bringe 4279 Euro auf, als „Sicherheitsleistung“, eine Art Kaution, um im Haus bleiben zu können, bis der Fall durch alle Instanzen gegangen ist. Moslehner hat auch die Kosten des Verfahrens zu tragen.

    Nachfragen, auch von der Presse, lässt die Richterin nicht zu, die Urteilsbegründung wird den Parteien im Rechtsstreit schriftlich zugestellt. Nach fünf Minuten ist in Saal 258 alles vorbei. Eine Frau, die mit Manne befreundet ist, sagt auf dem Gang: „Niemand hier in unserem Kreis hat so einfach 4000 Euro, Manne schon gar nicht.“

    Aufgeben wollen sie trotzdem nicht, sagt Harmut Lenz auf dem Gang. „Die Machenschaften der Entwicklungsgesellschaft“, müssten aufgeklärt werden. Er versucht, wieder kämpferisch zu klingen. Aber auch er sieht erschöpft aus. Ob Manne in Berufung gehen wird, wisse er noch nicht. Das müsse er erst mit ihm selbst und mit Mannes Anwalt besprechen.

    #Klassenkampf #Berlin

  • Plaudern im Salon: Waschen, Schneiden, Schnauze halten
    https://taz.de/Plaudern-im-Salon/!5912044

    Gentrifizierung tötet die Kommunikation zwischen den Klassen. Wo die Berliner Mischung bewirkte, dass alle mit allen redeten und stritten, haben die Insassen der Gated Communities die Kommunikation mit denen da unten eingestellt. Kommuniziert wird mit Apps und Anwälten. Die sorgen dafür, dass Dienstleister spuren und Noch-Wohnungsinhaber unschädlich gemacht werden.

    Man bleibt unter sich und verweigert nun auch den Dialog mit Friseur und Taxifahrer. Kein Problem, die Zeit der studentischen Taxibetriebe ist lange vorbei
    Heute muss niemand mehr befürchten, seinen künftigen Kollegen oder Chef am Steuer vor sich zu haben.

    Hinter dieser neuen Gestaltung der Klassenbeziehungen steckt ein Regelkreis aus sich sich wechseitig verstärkenden Elementen. Die durch unterschiedliche wirtschaftliche Lage der Beteiligten verursachte Distanz wird durch die Einführung neuer Technologien radikalisiert, und als Folge werden die Menschen selber in ihrer körperlichen und geistigen Verfassung modifiziert.

    Die Internettechnologie ermöglicht die virtuelle Fabrik und Koordinierung ihrer Produktionsabläufe weltweit, wozu die monolithische Fabrik im Hochlohnland zerschlagen wird. Die herrschende Klasse setzt dann die „Herrschaft des Sachzwangs“, der nichts anderes ist als die Erfordernisse der kapitalistischen Produktionsweise, mit ihren Tausend-Euro-Smartphones auch in den „privaten“ Lebensbereichen durch.

    Erfolg wird daraus mit Hilfe von Werbung, Zurschaustellung von Blingbling-Bachelor-Medienprodukten und der ganzen Palette der Wellness-Industrie.

    Der TAZ-Artikel beschreibt, wie die Mittelklassen im Kapitalismus eine ins einundzwanzigste Jahrhundert transponierte feudale Haltung zu ihren Untergebenen einnehmen. Dabei gehen sie genau genommen sogar noch brutaler vor als der Adel des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Befehle erteilen die heutigen Reichen nicht mehr Menschen sondern Maschinen. Gemacht wird die Arbeit aber nach wie vor von Menschen, die wie Roboterarme behandelt werden.

    Die Oberen Klassen haben sich selbst die Verkörperung der Ideale von „performance“ "lean production", „Optimierung“ und „gesunden Prozessen“ auferlegt, und führen deshalb in die Arbeitsumgebung ihrer perpheren, häuslichen und „körpernahen“ Dienstleister immer mehr Wesenszüge der Fabrikarbeit vor der Digitalisierung ein.

    Das ist es dann wohl, wenn von „Smart Cities“ die Rede ist. Alle sind „always connected“ jederzeit bereit mit Cents entlohnte „micro tasks“ zu erledigen, für die Maschinen entweder zu dumm oder zu teuer sind

    Ich bin gespannt welcher Kippunkt zuerst erreicht sein wird, der klimatische oder der gesellschaftliche. Die Entmenschlichten werden dann entweder still und leise verenden oder im Aufstand lautstarker Teil der kollabierenden Geschichte sein.

    Am 2.2. veeöffentlicht auch die Berliner Zeitung einen Artikel zum Thema: Anne Vorbringer, Sagen Sie jetzt nichts: Warum bei immer mehr Berliner Friseuren geschwiegen wird (#paywall)
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/trend-schweigen-silent-cut-haarschnitt-ohne-smalltalk-sagen-sie-jet

    1.2.2023 von Susanne Messmer - In Berlin kommen Haarschnitte ohne den üblichen Small Talk in Mode. Was ist das für eine Welt, in der niemand mehr aus seiner Blase will?

    Nicht, dass seit dem schnellen Siegeszug von „Cut an Go“ noch sehr viel übrig geblieben wäre vom guten, alten Friseur*innenbesuch. Aber dass es nun auch noch in Friedrichshain, Kreuzberg, Charlottenburg und Prenzlauer Berg erste Salons gibt, bei denen Besuchende einen „Silent Cut“ buchen können, um sich nicht einmal mehr während der raschen Wäsche, dem hektischen Schnitt und Selberföhnen am Schluss kurz übers Wetter, die weltpolitische Lage oder wenigstens die neue Pony-Frisur von Anne Hathaway auszutauschen: Das ist wirklich zu haarsträubend.

    Vor allem den Jüngeren muss es wohl kurz erklärt werden: Früher waren Termine im Friseursalon Wochen vorher zu buchen, für den einfachsten Haarschnitt ohne Strähnchen, Dauerwelle und ähnliche Scherereien war mindestens eine Stunde einzurechnen. Manchmal sieht man es noch in alten Hollywoodfilmen und Vorabendserien, wie Frauen unter der Haubenreihe über ihre Männer und den Rest der Welt zoteten, während sich Männer bei der Rasur über ihre Frauen und den Rest der Welt ausließen.

    Noch in den Achtzigern gab es vor allem auf dem vermeintlich ereignisarmen Land viele gutbürgerliche Frauen, die mindestens alle zwei Wochen zum Friseur gingen. Nie hätten sie daran gedacht, bei ihrem Jour fixe mit der Friseurin ihres Vertrauens aufs Plaudern zu verzichten.

    Natürlich werden es trotz des spontanen Haarschnitts zwischen zwei Terminen, der heute in der Großstadt gang und gäbe geworden ist, immer auch teure Friseursalons weiter existieren, wo es zugeht wie vor 100 Jahren: Vielleicht ist das vergleichbar mit der Lust auf Schallplatten trotz Musikhören auf dem Handy. Trotzdem sollte es bedenklich stimmen, dass nicht nur die Fri­seu­r*in­nen selbst „Silent Cuts“ wünschen, sondern auch die Kund*innen.
    Je­de*r auf seiner Insel

    Denn in den Bezirken, in denen neuerdings Waschen, Schneiden, Schnauze halten angeboten wird, ziehen tatsächlich zunehmend Menschen zu, die sich gern panzerartige Autos kaufen und diese am liebsten in ihren Tiefgaragen mit direktem Aufzug in die Wohnung abstellen. Es ist kein Klischee, dass sie sich von der Gesellschaft entkoppeln und meinen, auf einer Art eigenen Insel leben zu können, indem sie etwa das Gespräch mit den geringverdienenden Er­zie­he­r*in­nen ihrer Kinder, ihren Haushaltshilfen oder Ta­xi­fah­re­r*in­nen versuchen zu meiden.

    Dabei ist es durchaus möglich, mit Fri­seu­r*in­nen Gespräche zu führen, die weit über das Wetter, die Weltpolitik oder die neuesten Frisuren aus Hollywood hinausgehen. Gespräche zum Beispiel, in denen viel über die Brutalität unserer sozialen Schere zu erfahren ist.

    Silence ain’t golden: Was wäre das für eine Welt, in der niemand mehr aus seiner Blase will?

    #Berlin #Gentrifizierung #Klassenkampf #Revolution #catastrophe_climatique #capitalocène

  • Protest gegen 1.Mai-Auftritt beim DGB: „Giffey hat da nichts zu suchen“
    https://taz.de/Protest-gegen-1Mai-Auftritt-beim-DGB/!5851424

    Bei der offiziellen DGB-Kundgebung zum 1. Mai am Brandenburger Tor flogen Eier auf die Regierende Bürgermeisterin. Hier steht wieso.

    28.4.2022 von Erik Peter - Der DGB soll Franziska Giffey als Rednerin ausladen, fordert René Arnsburg vom klassenkämpferischen Block. Kommt sie doch, werde es Proteste geben.

    taz: Herr Arnsburg, Sie rufen den DGB dazu auf, die Regierende Bürgermeisterin als Rednerin von der 1. Mai-Demo auszuladen. Ist Franziska Giffey der Klassenfeind?

    René Arnsburg: Nein, das sind immer noch die Besitzer der Produktionsmittel.

    Was ist dann also das Problem?

    Giffey ist oberste Arbeitgebervertreterin gegenüber den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und hat schon als solche auf einer Demo der Beschäftigen nichts zu suchen. Darüber hinaus ist sie oft genug in Auseinandersetzungen mit ihnen verstrickt. Jüngst hat sie die Tarifbewegung für mehr Personal in Schulen und kleinere Klassengrößen mit Verweis auf die Ukraine-Flüchtlinge als nicht angemessen bezeichnet. Doch mit dieser Argumentation wird man die Unterbesetzung nie beheben. Die KollegInnen in den Krankenhäusern stehen auch weiterhin mit Giffey und dem Senat im Konflikt. Ihr Tarifvertrag für mehr Personal und bessere Bedingungen ist nicht umgesetzt. Dazu kommt: Giffey ist mit ihrer Positionierung gegen die Enteignung eine Vertreterin der Immobilienlobby.

    Was sagt das über die Gewerkschaften, wenn ranghohe Regierungsvertreter auf ihren Veranstaltungen sprechen dürfen?

    Dass große Teile ihrer Führung an der Sozialpartnerschaft und der konstruktiven Zusammenarbeit mit der Arbeitgeberseite festhalten. Dabei gibt es zwischen Kapital und Arbeit grundsätzlich keine Partnerschaft, sondern einen Interessengegensatz. Zu dieser Haltung sollten die Gewerkschaften zurückkehren.

    34, arbeitet in einem Verlag und ist seit 15 Jahren bei Verdi. Er ist Teil der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und als solcher beteiligt am „klassenkämpferischen Block“.

    Wer sollte anstelle von Giffey auf der Bühne stehen?

    Die Kolleginnen und Kollegen, die gerade die Kämpfe in den Betrieben führen. Das ist ihre Demo. Zum Teil dürfen sie auch sprechen.

    Was passiert, wenn Giffey doch spricht?

    Dann wird es Proteste dagegen geben, die sicht- und hörbar sein werden. Dabei wird die Forderung nach Vergesellschaftung der privaten Wohnungsbestände sicherlich einen prominenten Raum einnehmen.

    Sie organisieren den linksradikalen „klassenkämpferischen Block“ auf der Demo. Ist das eine Provokation gegenüber dem DGB?

    Das Wesen von Gewerkschaften besteht darin, dass es unterschiedliche Haltungen gibt. Wir waren auch schon vor Corona lange Teil der DGB-Demo und sind dort als fester Teil mit eingeplant. Unser Block läuft hinter den Einzelgewerkschaften. Wir sind keine Außenstehenden, sondern mehrheitlich selbst in den Gewerkschaften aktiv.

    #Berlin #Arbeit #Klassenkampf #Öffentlicher _Dienst #Krankenhausbewegung #Deutsche_Wohnen_enteignen

  • Gorillas-Lieferdienst : Klassenkampf im Gerichtssaal | Telepolis
    https://www.heise.de/tp/features/Gorillas-Lieferdienst-Klassenkampf-im-Gerichtssaal-6666242.html

    7.4.2022 von Peter Nowak - Für die Betroffenen war die gestrige Verhandlung nur eine Etappe auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof.

    Die Kündigungen von drei Beschäftigten des Essenslieferanten Gorillas wegen Beteiligung an einem „wilden Streik“ sind wirksam. Die Klage der Betroffenen dagegen vor dem Berliner Arbeitsgericht ist gescheitert.

    In einem Fall hat das Gericht allerdings die fristlose Kündigung zurückgewiesen, weil nicht hinreichend dargelegt worden sei, wie der Rider – so werden die Gorilla-Fahrer genannt – am Streik involviert war. Da er noch in der Probezeit war, konnte allerdings das Beschäftigungsverhältnis nach einer Zweiwochenfrist beendet werden, so das Gericht.

    So konnten alle drei Beschäftigten nicht wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Trotzdem sehen sie in der Entscheidung keine Niederlage. Sie war vielmehr erwartet worden. Wer am Mittwoch die 90-minütige Verhandlung verfolgte, war schnell davon überzeugt, dass die Beschäftigten dort keinen Erfolg haben werden.

    Im Gerichtssaal war vielmehr eine Atmosphäre von Klassenkampf zu spüren. Arbeitsrichter Kühn drohte sogar mit Räumung des Saals, weil ein Besucher einem nicht-deutschsprachigen Rider die Dialoge im Gerichtssaal übersetzte. Da konnte schon von einer Diskriminierung gesprochen werden, denn die Mehrzahl der Rider ist migrantisch und untereinander kommunizieren sie auf Englisch. Da ist es besonders fatal, dass Menschen, die dann versuchen, die Sprachdefizite durch Übersetzung in Eigeninitiative ausgleichen, sanktioniert werden.

    Auch gegenüber dem Anwalt der Beschäftigten, Benedikt Hopmann, waren die Töne des Richters sehr rau. Er beschuldigte ihn, auf Kosten der Beschäftigten Politik betreiben zu wollen. Das zeigte sich für Kühn schon daran, dass über 50 Menschen den Prozess verfolgten, der dafür extra in einen größeren Saal umziehen musste.

    Für Hopmann ist das Interesse deshalb so groß, weil es viele Menschen gibt, die ein Interesse an einem Ende des regressiven Streikrechts in Deutschland haben, so seine Ausführungen im Gerichtssaal.

    Hoffnung auf EU-Recht?

    Diese Hoffnung allerdings bleibt trotz des negativen Urteils beim Berliner Arbeitsgericht weiter bestehen. Es war schon eingepreist und ist die Voraussetzung, damit die Kläger durch alle Instanzen und bis zum Europäischen Gerichtshof ziehen können. Das aber, so die Hoffnung von Hopmann, könnte das regressive Streikrecht in Deutschland kippen, das in der Pressemitteilung des Berliner Arbeitsgerichts noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde.

    Das Gericht erachtete zwei der außerordentlichen Kündigungen für wirksam. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Teilnahme an einem Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn dieser von einer Gewerkschaft getragen werde.

    Aus der Pressemitteilung des Berliner Arbeitsgerichts

    Hopmann verweist auf die Europäische Sozialcharta, die im Widerspruch dazu stehe. Sie stärke ausdrücklich das Recht auf Streiks ohne Gewerkschaften sowie politische Streiks, was Hopmann in einem Online-Vortrag auch gut begründet.

    Dass deutsche Regierungen der unterschiedlichen Zusammensetzungen die Europäische Sozialcharta behindern, kritisiert auch der gewerkschaftsnahe Jurist Wolfgang Däubler.

    Trotzdem wäre ein zu großer Optimismus verfrüht, dass das regressive deutsche Streikrecht durch EU-Recht liberalisiert wird. Das zeigte sich schon daran, dass der Anwalt des Essenslieferanten die Sozialcharta ganz anders auslegt.

    Hier wurde eben deutlich, dass es sich um einen Klassenkampf im Recht handelt. Das EU-Recht hat in verschiedenen Minderheitenfragen tatsächlich liberalen Positionen zum Durchbruch verholfen, aber ist nicht als besonders gewerkschaftsfreundlich aufgefallen. Trotzdem ist die aktuelle Auseinandersetzung wichtig.

    Neue Gesicht der Arbeitskämpfe in Deutschland

    Die Grundlage ist eine neue Welle von Arbeitskämpfen, die durch die Rider verschiedener Essenslieferanten initiiert wurden, die lange als schwer organisierbar galten. Doch mit der Gründung der Deliverunion zeigte sich, dass auch dort Organisierungsprozesse möglich sind, wie der Soziologe Robin De Greef in dem Buch „Riders Unite!“ nachgewiesen hat.

    Nun ist bei Gorillas eine neue Welle der Beschäftigten in den Kampf getreten. Sie ist transnational. Ihr Kampf dreht sich um mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen, aber auch um überdachte Pausenräume. Sie haben mit ihren Arbeitskämpfen überhaupt erst wieder die Diskussion um das regressive deutsche Streikrecht auf die Agenda gesetzt.

    Das wurde in dem Redebeitrag von Gorilla-Riderin Duygu Kaya deutlich. Die Akademikerin aus der Türkei beschrieb gut, dass sie als Migrantin auch in Deutschland in prekäre Arbeitsverhältnisse wie bei Gorillas gezwungen ist. Sie erklärte, wieso die Beschäftigten dort in den Arbeitskampf traten und auch trotz Repression daran festhielten.

    Eigentlich wollte Kaya den Beitrag vor Gericht halten, um dort zu begründen, warum sie in den Arbeitskampf trat. Doch das ließ Richter Kühn mit der Begründung nicht zu, er könne keine Schmähkritik im Gerichtssaal dulden. Vielleicht, weil Kaya auch auf den NS-Hintergrund des regressiven deutschen Streikrechts erinnerte. Es wurde bereits 1934 von Hans-Carl Nipperday in seinem Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit formuliert und hat noch immer Gültigkeit.

    Solidarität mit Beschäftigten auch im Stadtteil

    So konnte Kaya ihre Rede vor dem Berliner Arbeitsgericht halten, wo die Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht zu einer Kundgebung aufrief. Dort haben sich verschiedene Gruppen, unter anderem die AG Taxi bei der Dienstleistungsgewerkschaft verdi, mit den Gorilla-Riders solidarisiert.

    Schon einige Tage zuvor haben Nachbarn ebenfalls ihre Solidarität gezeigt, als dort eine Gorilla- Filiale geschlossen wurde. Vorher hatten einige Anwohner gegen das „migrantische Unternehmen“ mobilisiert, das angeblich nicht in die bürgerliche Wohngegend passe. Auf der Kundgebung am 30. März setzte ein Mitarbeiter des Roten Antiquariats, das in der Straße seine Filiale hat, in einer Rede andere Akzente:

    Doch statt die Arbeitsbedingungen und die Kapitalstrategien zu kritisieren, werden die oftmals migrantischen Beschäftigten selber zu Sündenböcken erklärt. Es wird sich über die hohe Geschwindigkeit der Fahrradkuriere oder die blockierten Straßen mokiert aber nicht gesehen, dass die Beschäftigten im Zustellungsbereich einen gewaltigen Druck erleben und sie es sind, die die bestellten Waren transportieren aber nicht konsumieren. Die Logik ist klar, man will beliefert werden, aber der Lieferverkehr und die Arbeitskräfte sollen nicht stören. Die Kuriere sind jedoch die modernen Dienstboten unserer Zeit.

    aus einer Rede eines Mitarbeiters des Roten Antiquariats auf einer Solidaritätskundgebung für Gorillas-Beschäftigte

    Diese außerbetriebliche Solidarität ist der Erfolg der Arbeitskämpfe der Riders. Wenn es ihnen gelingt, über den Europäischen Gerichtshof ein regressives deutsches Streikrecht mit NS- Hintergrund zu kippen, wäre das ein besonderer Erfolg.

    #Berlin #Arbeit #Justiz #Gigworking #Kündigung #Arbeitskampf #Klassenkampf #Fahrradkurier #Transport

  • Ein Job für höchstens drei Jahre
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162708.arbeitsbedingungen-bei-lieferdiensten-ein-job-fuer-hoechstens-dre

    3.4.2022 von Patrick Volknant - Die einen kommen nicht vom Sofa hoch, die anderen treten auch bei strömendem Regen in die Pedale. Täglich eilen unzählige Essenskuriere auf dem Fahrrad oder mit dem Auto durch die Hauptstadt – die meisten von ihnen in neon-orangener Montur. Ihr Arbeitgeber, der milliardenschwere Branchenriese Lieferando, hat in Zeiten von Pandemie und Abstand halten weiter die Kassen füllen können. Doch für den Geschmack der Fahrerinnen und Fahrer in Berlin kommt davon zu wenig in ihren eigenen Geldbeuteln an.

    Einer von ihnen ist Leo. Seit rund eineinhalb Jahren ist er mit dem Fahrrad für Lieferando unterwegs, 30 Stunden die Woche. Seinen eigenen Worten zufolge biegt der 27-Jährige damit bereits auf die Zielgerade ein: »Wenn du krass drauf bist, kannst du den Job vielleicht zwei, drei Jahre machen – länger nicht.« Obwohl er auch neben dem Job versuche, sich fit zu halten und auf die eigene Ernährung zu achten, mache sich die physische Belastung der Arbeit schnell bemerkbar. »Rückenschmerzen sind bei uns allen ein Dauerthema.«

    Auch an der Psyche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinterlasse der Job Spuren, sagt Leo: »Ich habe Kollegen, die nachts aufwachen, weil sie geträumt haben, dass sie ein Laster überfährt.« Das komme nicht von ungefähr. Der Essenskurier erzählt von katastrophalen Zuständen auf den Berliner Straßen, von nicht vorhandenen Fahrradwegen und Rasern, die »mehr oder weniger besinnungslos« mit dem Auto durch die Gegend jagen. »Die Arbeit ist schon gefährlich, besonders wenn starker Wind weht oder wenn es glatt ist«, sagt Leo. Er selbst sei schon mehrfach gestürzt, es gebe auch Kolleginnen und Kollegen, die sich den Arm oder die Schulter gebrochen hätten.

    »An den Straßen kann Lieferando natürlich nichts ändern«, sagt Leo. Durchaus möglich sei es aber, zuverlässige Räder mit intelligenter Lastenverteilung zur Verfügung zu stellen. »Bei DHL fährt ja auch niemand mit einem Rucksack herum wie wir.« Dabei startete Lieferando Anfang des Jahres das, was von mancher Seite als Charmeoffensive interpretiert wurde, stellte Diensträder sowie Smartphones zur Verfügung. Allerdings leistete das Unternehmen lediglich einem vorausgegangenen Urteil des Bundesarbeitsgerichts Folge, das den Anspruch für Fahrradkuriere zuvor festgelegt hatte.

    Von den versprochenen Diensthandys sei bis heute nichts zu sehen, erzählt Leo. Auch auf die Diensträder verzichte er lieber und nehme stattdessen weiter sein eigenes. »Viele der Räder sind einfach in einem Scheiß-Zustand«, sagt er. »Bei meinem eigenen Rad weiß ich wenigstens, dass es in Ordnung ist.« Wenn früher ein Fahrrad abhanden gekommen oder kaputt gegangen sei, habe Lieferando dazu aufgefordert, Leihräder von öffentlichen Anbietern auf eigene Kosten zu benutzen. An dieser Geisteshaltung hat sich laut Leo bis heute nichts geändert: »Es gibt bei Lieferando das Grundprinzip, dass Angestellte mit ihren Problemen und Nöten alleine gelassen werden.«

    Berliner Kolleginnen und Kollegen von Leo sehen es ähnlich. Immer wieder kommt es zu Demonstrationen vor dem Lieferando-Hauptquartier in Kreuzberg. Erst kürzlich forderten diejenigen, die mit dem Auto für das Unternehmen durch die Stadt fahren, eine Erhöhung der Kilometerpauschale von 30 auf 50 Cent, um den gestiegenen Spritpreisen gerecht zu werden. Auch Leo war dort. »Ich will mich hier solidarisch zeigen«, sagt er. Es gehe ihm dabei einfach ums Prinzip.

    Den Protest mit auf die Beine gestellt hat Sarah, alleinerziehende Mutter von drei Kindern. »Versicherung, Steuern, Werkstattbesuche – das müssen wir alles selbst tragen«, sagt die 32-Jährige, die wie alle anderen auch ihr Privatauto für den Job bei Lieferando einsetzt. Schon bei normalen Benzinpreisen reiche die Kilometerpauschale »vorne und hinten nicht«, mittlerweile aber sei es vollkommen unmöglich geworden. »Das ist ein ganz, ganz großes Problem für uns gerade«, sagt sie. »Wir bezahlen den Sprit aus eigener Tasche.«

    Es ist auch die Anrechnung der Strecken, die für Kopfschütteln unter den Fahrerinnen und Fahrern sorgt. Die Rede ist von »gestohlenen Kilometern«: zusätzlichen Wegen, die durch Lieferando nicht anerkannt und gezahlt werden. Schuld soll das nicht funktionierende Zusammenspiel zwischen der unternehmenseigenen App und dem von Lieferando zur Verfügung gestellten Navigationssystem sein. Sarah erklärt, die App berechne ständig kürzere Wege als die Strecken, die tatsächlich angezeigt und gefahren würden. Außerdem werde man regelmäßig an falsche Adressen geleitet. Die zusätzlichen Kosten übernehme Lieferando in keinem der Fälle.

    »Weil das Navi generell einfach immer spinnt, habe ich mir ein eigenes besorgt«, sagt Sarah. Jetzt werde sie zwar seltener an falsche Adressen geleitet, an der fehlerhaften Kilometerberechnung in der App ändere das aber nichts. Theoretisch gebe es für sie zwar die Möglichkeit, die zusätzliche Strecke manuell nachzuweisen, aber: »Es ist einfach nicht meine Aufgabe als Fahrerin, da noch ein Fahrtenbuch parallel zur Arbeit zu führen.«

    So gefährlich wie Leos Alltag ist der von Sarah nicht. Von Stress weiß aber auch sie zu berichten. »Man hat natürlich viele Tage, an denen man kaum hinterherkommt«, sagt sie. »Wenn eine Lieferung vor einer Stunde hätte abgeholt werden müssen, sind wir diejenigen, die den ganzen Stress vom Restaurant und von den Kunden abbekommen.« Zu Verspätungen komme es zwangsläufig: Parkplätze und Wohnungseingänge seien schwer zu finden, oft müsse telefoniert werden, weil auf das Klingeln niemand reagiert.

    Bei der Frage danach, ob sie mit der Bezahlung zufrieden sei, muss Sarah lachen. »Natürlich ist das nicht in Ordnung und könnte viel mehr sein.« Neben dem Stundenlohn, den Lieferando Anfang des Jahres von zehn auf elf Euro erhöht hat, erhalten Fahrerinnen und Fahrer ab der 26. Lieferung im Monat nach einem Staffelsystem zusätzlich 25 Cent pro Zustellung. Ab der 101. Lieferung gibt es einen, aber der 201. zwei Euro pro Zustellung oben drauf. »Letztlich macht es eigentlich das Trinkgeld«, sagt Sarah.

    Seit kurzem ist die Fahrerin Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Diese fordert schon seit längerem einen Stundenlohn von 15 Euro für die Lieferando-Beschäftigten. Sie versuche auch, andere dazu bewegen, sich zu engagieren, sagt Sarah, doch das sei nicht so einfach: »Viele hier haben Probleme mit Lieferando, bleiben aber lieber ruhig, weil sie Angst haben, den Job zu verlieren.« Für einige hänge auch der Aufenthaltstitel an der Anstellung. Aufgeben wollen Sarah und Leo aber nicht. Die erstmalige Wahl eines Betriebsrats für die Berliner Beschäftigten ist bereits in Vorbereitung.

    Lieferando selbst ließ eine Anfrage von »nd« unbeantwortet. Am Mittwoch startet vor dem Arbeitsgericht in Berlin ein Prozess gegen den Lieferdienst Gorillas. Drei ehemalige Angestellte des Unternehmens klagen, nachdem sie zusammen mit über 50 Kolleginnen und Kollegen fristlos entlassen wurden.

    #Berlin #Arbeitsgericht #Fahrradkurier #Lieferdienst #Arbeit #Klassenkampf

  • China: Nicht gut, aber besser als andere Jobs
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1152403.lieferdienste-nicht-gut-aber-besser-als-andere-jobs.html

    25.05.2021, von Fabian Kretschmer, Peking - Auch in China boomen Essenslieferdienste. Die Arbeitsbedingungen sind prekär, Protest kann gefährlich sein.

    Jeden Nachmittag, wenn die Auftragslage ruhiger wird, parkt Dong seinen Elektro-Scooter vor einem Einkaufszentrum, funktioniert den Sattel zur Liegecouch um und hält mit seinen Kollegen eine Siesta ab: Zigaretten werden geraucht, Handy-Videos angeschaut und blöde Sprüche gerissen. »So schwer ist mein Job eigentlich gar nicht«, sagt der 21-Jährige. »Nur während der Stoßzeiten kann es manchmal ganz schön stressig sein.«

    Der Arbeitsmigrant kommt aus der zentralchinesischen Provinz Shanxi, berühmt für Kohlebergbau und sauer gewürzte Nudelgerichte. Er ist einer von rund sechs Millionen Lieferkurieren, die nicht erst seit der Pandemie aus dem Stadtbild chinesischer Metropolen nicht mehr wegzudenken sind.

    Doch während der Lockdowns im Frühjahr 2020 bekam die Öffentlichkeit vor Augen gehalten, wie sehr die Fahrer auf ihren bunten E-Bikes den wirtschaftlichen Kreislauf der Stadt aufrechterhalten. Die offizielle Propaganda erklärte sie gar zu Helden der Pandemie, gemeinsam mit dem medizinischen Personal. Sie sorgten für zweistelliges Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2020, als viele Branchen praktisch zum Stillstand kamen.

    Lieferkurier Dong zog im Corona-Jahr nach Peking, zuvor arbeitete er in seinem Heimatdorf auf dem Bau. Doch als Lieferkurier, sagt er, seien die Verdienstmöglichkeiten deutlich besser. Bis zu 10 000 Yuan kann er im Monat erwirtschaften, umgerechnet immerhin knapp 1300 Euro. Doch dafür ist der junge Mann gut zehn Stunden am Tag auf der Straße unterwegs. Bis zu 40 Lieferungen fährt er aus - stets im Wettkampf gegen den Algorithmus.

    Denn der Zeitdruck ist erbarmungslos. Für jede Fahrt berechnet die Software eine genaue Frist. Wer länger benötigt, bekommt automatisch Lohnkürzungen aufgebrummt. Auch Dong musste bereits ein paar Mal bis zu 40 Euro Strafe zahlen. »Die meisten Kunden sind aber eigentlich nett zu mir und geben kein negatives Feedback«, sagt er.

    Im April nahm eine Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen von Essenslieferanten Fahrt auf. Damals heuerte ein Regierungsmitarbeiter in Günter-Wallraff-Manier inkognito als Fahrer beim Unternehmen Meituan an. In eine schwarze Funktionsjacke gehüllt, ließ sich Wang Lin bei einer nervenaufreibenden Zwölf-Stunden-Schicht mit versteckter Kamera filmen. »Es ist wirklich zu schwierig, und außerdem fühlte ich mich gekränkt«, schilderte er in der im Staatsfernsehen ausgestrahlten Dokumentation.

    Natürlich hat die Lieferbranche in der vergangenen Dekade Millionen Jobs geschaffen, die für ambitionierte Arbeitsmigranten bessere Verdienstmöglichkeiten bieten als je zuvor. Doch gleichzeitig wurde ein neues Prekariat herangezüchtet, wie es für die Plattform-Ökonomie typisch ist: keine soziale Absicherung, keine festen Arbeitsverträge und trotz hohem Unfallrisiko keine Krankenversicherung.

    Immer wieder kommt es daher zu Streiks von Lieferkurieren. Doch Experten sagen, dass dies nicht das Gesamtbild der Branche widerspiegele: »Landesweit gehen die Löhne von Lieferkurieren nach wie vor weiter nach oben«, sagt Eric Lin, der für die Schweizer Großbank UBS zur Logistikbranche in China forscht.

    Ein spektakulärer Fall zeigt indes die Schattenseiten hinter dem Wirtschaftsboom auf. Chen Guojiang, ein 30-Jähriger Lieferkurier, mobilisierte 2019 Hunderte Kollegen in Peking zum Streik, um gegen Lohnkürzungen zu protestieren. Wenig später steckte ihn die Polizei für knapp einen Monat in Untersuchungshaft. »Streit anfangen und Ärger provozieren«, lautete die diffuse Anklage, auf der bis zu fünf Jahren Haft steht.

    Nach seiner vorübergehenden Freilassung verlagerte Chen seinen Protest in die sozialen Medien. Auf der chinesischen Version von Tiktok lud er kurze Videoclips hoch, in denen er aus seinem Arbeitsalltag berichtet: »Lieferkuriere sind Menschen, keine Roboter. Doch die Lieferplattformen behandeln uns wie Rädchen im Getriebe«, schilderte er. Über eine Chat-App verband er zudem mehrere tausend Lieferkuriere zum Erfahrungsaustausch. Seit Februar ist Chen Guojiang spurlos verspunden. Selbst seine Eltern wissen nur, dass er verhaftet wurde. Wer sich im offiziell kommunistischen China gewerkschaftlich engagiert, kann wie ein Staatsfeind behandelt werden.

    Lieferkurier Dong weiß nichts von dem Fall, was wohl an der verhängten Nachrichtensperre liegt. Doch er sagt auch, dass die Arbeit als Essenslieferant für ihn trotz des fairen Lohns nur eine Zwischenlösung darstellt. »Ich bleibe noch etwa ein Jahr in Peking, dann ziehe ich zurück in die Heimat, um mein eigenes Geschäft zu starten. Ich bin 21, und einen Job wie Essen ausliefern sollte man nicht für immer machen.«

    Doch für manch älteren Kollegen ist der Job weit mehr als ein Sprungbrett. Fang zählt zu den wenigen Frauen in der Branche. Die 47-Jährige sitzt in der futuristisch eingerichteten Filiale eines Pekinger Teeladens und wartet auf ihre nächste Lieferung. Auf einem riesigen LED-Display werden die Bestellungen eingeblendet: hippe Drinks, mit Früchten und Käse versetzt, die bevorzugt von wohlhabenden Millennials geordert werden. Sie kosten deutlich mehr als der Stundenmindestlohn in Peking, der umgerechnet bei ungefähr drei Euro liegt.

    Lieferantin Fang wirkt etwas fremd in dieser urbanen Welt, auch wenn sie bereits seit acht Jahren in Peking lebt. Zunächst arbeitete sie als Au-Pair für reiche Familien, später als Kellnerin in einem Ecklokal. Ob sie den Job als Lieferfahrerin bis zur Rente machen will? »Wir haben sowieso keine stabilen Jobs, also mal schauen«, sagt Fang.

    #China #Krankenversicherung #Arbeit #Lieferfahrer #Covid-19 #Prekariat #Klassenkampf

  • Wombats enteignen! | labournet.tv
    https://de.labournet.tv/wombats-enteignen


    Bericht von der Solidaritätsveranstaltung vor dem Wmobts Hostel ALte Schönhauser Straße, Redebeitrag der AG Taxi ab 09:42 und ab 11:47

    deutsch |12 min | 2019 |

    https://kanalb.net/media/labournet/wombats17mai19_0_1.mp4

    Am 17. Mai 2019 protestierten 100 Menschen gegen die Schließung des Wombats Hostels und forderten seine Enteignung durch den Berliner Senat und Weiterführung durch die Belegschaft. Zu dem Protest kamen Beschäftigte aus anderen kämpfenden Belegschaften und Gruppen, wie z.B. der Taxi AG in Verdi, dem Tochterunternehmen der Charité CFM und Bildungsarbeiterinnen, die für einen Branchentarifvertrag kämpfen. 

    Durch den musikalischen Beitrag von Paul Geigerzähler, der daran erinnerte, dass bei dem Bau der „Mall of Berlin“ am Potsdamer Platz rumänische Arbeiter nicht bezahlt wurden und letztlich niemand dafür verantwortlich gemacht wurde, und die Redebeiträge der aktiven Kolleg_innen, wurde die Kundgebung zu einem Tribunal gegen die arbeitnehmerfeindliche Politik des Berliner Senates insgesamt.

    Der Senat ist einerseits für die Extstenz von 160 Tochterunternehmen von öffentlichen Unternehmen wie z.B. Charité oder Vivantes verantwortlich, in denen Arbeiter_innen um große Teile ihres Lohns betrogen werden, andereseits unternimmt er nichts, um Arbeitnehmer_innenrechte systematisch zu schützen.

    „Wir fordern, dass die Gewerbeaufsicht, der Zoll, das Arbeitsgericht und die Senatsstellen endlich dafür sorgen, dass man uns nicht mehr brutal ausbeuten kann. Wir brauchen feste Ansprechpartner in den Behörden, die dafür sorgen, dass wir gehört werden und unseren Beschwerden aktiv nachgegangen wird“, sagte ein Kollege der Taxi AG.

    TEAM: LABOURNET.TV

    TAGS: #CHARITÉ, #VIVANTES, #NGG, #KLASSENKÄMPFE, #LEIHARBEIT, #PROLETARISCHE_ÖFFENTLICHKEIT, #PREKÄRE_ARBEIT, #VER.DI

  • Connecticut legislators to consider minimum pay for Uber and Lyft drivers - Connecticut Post
    https://www.ctpost.com/politics/article/Connecticut-legislators-to-consider-minimum-pay-13608071.php

    By Emilie Munson, February 11, 2019 - Prompted by growing numbers of frustrated Uber and Lyft drivers, lawmakers will hold a hearing on establishing minimum pay for app-based drivers.

    After three separate legislative proposals regarding pay for drivers flooded the Labor and Public Employees Committee, the committee will raise the concept of driver earnings as a bill, said state Rep. Robyn Porter, D-New Haven, who chairs the committee, on Friday night.

    A coalition of Uber and Lyft drivers from New Haven has been pressuring lawmakers to pass a pay standard, following New York City’s landmark minimum pay ordinance for app-based drivers approved in December. The legislation, which set an earnings floor of $17.22 an hour for the independent contractors, took effect on Feb. 1.

    Connecticut drivers have no minimum pay guarantees.

    Guillermo Estrella, who drives for Uber, worked about 60 hours per week last year and received $25,422.65 in gross pay. His pay stub doesn’t reflect how much Estrella paid for insurance, gas, oil changes and wear-and-tear on his car. Factor those expenses in, and the Branford resident said his yearly take-home earnings were about $18,000 last year.

    Estrella and other New Haven drivers have suggested bill language to cap the portion of riders’ fares that Uber and Lyft can take at 25 percent, with the remaining 75 percent heading to drivers’ pockets. The idea has already received pushback from Uber, which said it was unrealistic given their current pay structure.

    Connecticut legislators have suggested two other models for regulating driver pay. State Sen. Steve Cassano, D-Manchester, filed a bill to set a minimum pay rate per mile and per minute for drivers. His bill has not assigned numbers to those minimums yet.

    “What (drivers) were making when Uber started and got its name, they are not making that anymore,” said Cassano. “The company is taking advantage of the success of the company. I understand that to a point, but it shouldn’t be at the expense of the drivers.”

    State Rep. Peter Tercyak, D-New Britain, proposed legislation that says if drivers’ earnings do not amount to hourly minimum wage payments, Uber or Lyft should have to kick in the difference. Connecticut’s minimum wage is now $10.10, although Democrats are making a strong push this year to raise it.

    As lawmakers consider these proposals, they will confront issues raised by the growing “gig economy”: a clash between companies seeking thousands of flexible, independent contractors and a workforce that wants the benefits and rights of traditional, paid employment.

    Some Democrats at the Capitol support the changes that favor drivers.

    “I thought it was important to make sure our labor laws are keeping up with the changes we are seeing in this emerging gig economy, that we have sufficient safeguards to make sure that drivers are not being exploited,” said Sen. Matt Lesser, D-Middletown.

    But the proposals also raise broad, difficult questions like what protections does a large independent contractor workforce need? And how would constraining the business model of Uber and Lyft impact service availability around the state?

    Sen. Craig Miner, a Republican of Litchfield who sits on the Labor committee, wondered why Uber and Lyft drivers should have guaranteed pay, when other independent contractors do not. How would this impact the tax benefits realized by independent contractors, he asked.

    Uber and Lyft declined to provide data on how many drivers they have in the state, and the Connecticut Department of Motor Vehicles does not keep count. In Connecticut, 82 percent of Lyft drivers drive fewer than 20 hours per week, said Kaelan Richards, a Lyft spokesperson.

    Last week, Hearst Connecticut Media spoke to 20 Uber and Lyft drivers in New Haven who are demanding lawmakers protect their pay. All drove full-time for Uber or Lyft or both.

    An immigrant from Ecuador, Estrella, the Branford driver, struggles to pay for rent and groceries for his pregnant wife and seven-year-old son using his Uber wages.

    “A cup of coffee at the local Starbucks cost $3 or $4,” said Estrella. “How can a trip can cost $3 when you have to drive to them five minutes away and drop them off after seven or eight minutes?”

    In December, 50 Uber and Lyft drivers held a strike in New Haven demanding better pay. The New Haven drivers last week said they are planning more strikes soon.

    “Why is Uber lowering the rates and why do we have to say yes to keep working?” asked Carlos Gomez, a Guilford Uber driver, last week.

    The drivers believe Uber and Lyft are decreasing driver pay and taking a larger chunk of rider fares for company profits. Many New Haven drivers said pay per mile has been decreasing. They liked Sen. Cassano’s idea of setting minimum pay per mile and per minute.

    “The payment by mile, it went down by 10 cents,” said Rosanna Olan, a driver from West Haven. “Before it was more than one dollar and now when you have a big truck SUV, working long distance especially is not worth it anymore.”

    Uber and Lyft both declined to provide pay rates per mile and per minute for drivers. Drivers are not paid for time spent driving to pick up a passenger, nor for time spent idling waiting for a ride, although the companies’ model depends on having drivers ready to pick up passengers at any moment.

    Lyft said nationally drivers earn an average of $18.83 an hour, but did not provide Connecticut specific earnings.

    “Our goal has always been to empower drivers to get the most out of Lyft, and we look forward to continBy Emilie Munson Updated 4:49 pm EST, Monday, February 11, 2019uing to do so in Connecticut, and across the country," said Rich Power, public policy manager at Lyft.

    Uber discouraged lawmakers from considering the drivers’ proposal of capping the transportation companies’ cut of rider fares. Uber spokesman Harry Hartfield said the idea wouldn’t work because Uber no longer uses the “commission model” — that stopped about two years ago.

    “In order to make sure we can provide customers with an up-front price, driver fares are not tied to what the rider pays,” said Hartfield. “In fact, on many trips drivers actually make more money than the rider pays.”

    What the rider is pays to Uber is an estimated price, calculated before the ride starts, Hartfield explained, while the driver receives from Uber a fare that is calculated based on actual drive time and distance. Changing the model could make it hard to give customers up-front pricing and “lead to reduced price transparency,” Hartfield said. New York’s changes raised rates for riders.

    James Bhandary-Alexander, a New Haven Legal Assistance attorney who is working with the drivers, said Uber’s current pay model is “irrelevant to how drivers want to be paid for the work.”

    “The reason that drivers care is it seems fundamentally unfair that the rider is willing to pay or has paid $100 for the ride and the driver has only gotten $30 or $40 of that,” he said.

    Pursuing any of the three driver-pay proposals would bring Uber and Lyft lobbyists back to the Capitol, where they negotiated legislation spearheaded by Rep. Sean Scanlon, D-Guilford, from 2015 to 2017.

    Scanlon said the companies eventually favored the bill passed in 2017, which, after some compromise, required drivers have insurance, limited “surge pricing,” mandated background checks for drivers, imposed a 25 cent tax collected by the state and stated passengers must be picked up and delivered anywhere without discrimination.

    “One of my biggest regrets about that bill, which I think is really good for consumers in Connecticut, is that we didn’t do anything to try to help the driver,” said Scanlon, who briefly drove for Uber.
    By Emilie Munson Updated 4:49 pm EST, Monday, February 11, 2019
    emunson@hearstmediact.com; Twitter: @emiliemunson

    #USA #Uber #Connecticut #Mindestlohn #Klassenkampf